„Wider den Mahlstrom des rohen Jetzt“
Im grossen Geplapper und Getwitter weltweiter Info-Inkontinenz sollte mal die Mitteilung an die Zeit gemacht werden, dass kurze Mitteilungen auch höchste Verdichtung geistiger Prägnanz sein können. Schon seit ein paar hundert Jahren: Als Aphorismen.
Gastbeitrag von Burkhard Jahn, Schauspieler und Autor, Zürich
Verweisen wir auf Google, um über die Meister der kleinen Kunstform zwischen Haiku-ähnlicher Dichtung und philosophischer Kurzmitteilung mehr zu erfahren. Und dann soll ein gleissender Scheinwerfer auf das vermeintliche Schattendasein heutiger Aphorismen gerichtet werden, dem die Beleuchtung zusteht. Wo die kleine literarische Form doch so viel Erleuchtung bedeuten kann.
Einer der produktivsten Meister der Gattung ist der Schweizer Martin Liechti, der nun wieder mit einem Buch voller Luzidität die grösste Aufmerksamkeit verdient. Heute im Zeitalter der Kurzmitteilungen, deren Gehalt sich oft genug in den Namen erschöpft, die sie bezeichnen – SMS, Tweet, Posting – könnte vielleicht ja das Griffige der pointierten Gedanken in Form des Aphorismus zu neuer Blüte gelangen. Hier haben wir es mit einer Kurzmitteilung höchsten philosophischen, didaktischen oder poetischen Nährwerts zu tun.
Und das Geistreiche steht – Gott sei es gedankt! – hier weiterhin über dem Zeitgeist, dem Liechti immer wieder den Fehdehandschuh zuwirft: „Sünderlatein“ steht als Titel über der Sentenz: „Jede Freude ist ein Affront gegenüber dem Leiden in der Welt und ihrem leidigen Zustand.“ Und der Titel brandmarkt die lebensfeindliche Phrase als Ausbund des frömmelnden Pharisäertums. Desselben Pharisäertums übrigens, dem die beklemmend aktuelle und so geschliffene Parade gilt:
„Kritisieren als vorausgenommene Ablehnung ist gang und gäbe und schliesst die zustimmende Wertung praktisch aus.“
Doch der Klage an der Welt, dem Spott über Welt und Wahnsinn stehen zur Seite die Besonnenheit und der gelassene Blick. Und so empfiehlt sich das Buch als Brevier, als Stundenbuch für Besonnene, für Trostsuchende im Irrsinn des Alltags. Lebenshilfe, Denkgenuss, Amusement und Frappanz liefern Scharfsinn und Esprit der rund 160 Seiten. Immer wieder verblüffend.
„Kurzum“ ist folgerichtig der Titel des Buches, das jetzt im österreichischen Bucher Verlag erschienen ist. Und das ist bereits Liechtis elftes Werk grosser Gedanken in kleiner Form.
Ein einfacher Trick, das Buch zu lieben: Es lesen! Ganz einfach!
Martin Liechti, geb. in Jegenstorf (Bern/Schweiz), lebt als Autor in Zürich. Neben Romanen (u.a. «ICH WILL», «Die Schärfe der Unschärfe», «Noch sind wir allein» und «Hic salta») veröffentlichte er vor allem Aphorismen. So «Sätze und Ansätze» (2002), «Vor- und Nachgedachtes» (2005), «Wortund Kopfsprünge» (2008), «Im Fluss …» (2010), «Sage mir …» (2012), »»Geflügeltes» (2014), «Randwärts» (2016), «Keiner weiss, warum (2018) und «Leicht daneben» (2020). Mit über zehn Aphorismenbänden gehört Liechti zu den namhaften Autoren der Gattung.
Beitragsbild © Urs Heinz Aerni