Wenn eine Familie auseinanderzubrechen droht. Ruth Looslis Debüt beschreibt den schmalen Grat zwischen Selbstzerstörung und Verzweiflung all jenem gegenüber, das einem aus der Hand genommen wird. Die Geschichte einer Mutter und ihrer Tochter, die sich wie ein Doppelgestirn aus der Gravitation des Normalen entfernt.
Moja schien das Leben im Griff zu haben, machte Matura, ging in einem Zwischenjahr auf Reisen und begann danach ein Studium, das sie wohl abbrach aber nichts desto trotz einen sicheren Stand als Pflegehelferin in einem Heim fand. Dass sie mit dreizehn ihren Vater durch einen Unfall verlor, ihre Mutter damals eine Auszeit nehmen musste und Moja bei Nachbarn unterbrachte, dass sich Moja damals mit Canabis zu trösten begann, schien alles überwunden. Bis es Moja eines Morgens nicht mehr schaffte, ihre Wohnung zu verlassen. Bis sie sich krank schreiben liess. Bis sie sämtliche Kontakte sausen liess, bis auf jene zu ihrer Mutter Paula und ihrem Bruder Jonas.
Paula und ihre Tochter Moja wohnen in der gleichen Stadt. Was anfänglich wie eine Krise aussieht, etwas, aus dem man sich selbst am Schopf herausziehen kann, etwas, das wie eine lang andauernde Dürre irgendwann vorbei sein muss, schiebt sich immer mehr in eine Sphäre, die sich jedem Zugriff, jeder Beeinflussung, jeder Hilfe verweigert. So schwer es für die 25jährige Moja wird, sich in ihrem Leben zurechtzufinden, eine Ordnung zu finden, Halt und Struktur, so schwer ist es für ihre Mutter Paula, die nicht akzeptieren will und kann, dass ein Problem sich jeder Lösung entzieht, dass man nicht in die Hände spucken und die Sache angehen kann, dass man akzeptieren soll, was aus der Distanz unweigerlich an einem Abgrund zu stehen scheint, unmittelbar vor der Vervielfachung einer schwelenden Katastrophe.
Moja hört Stimmen, verschiedene Stimmen. Stimmen, die viel mehr zu zählen scheinen als ihre eigene und die ihrer Mutter. Stimmen, die Moja immer mehr von der Welt abkoppeln, in denen sie sich verliert. Moja schliesst sich in ihrem Zuhause ein. Selbst die Kontakte zu ihrer Mutter und ihrem Bruder, die die einzigen geblieben sind, denen sie sich phasenweise öffnen kann, unterbindet sie immer öfters. Sie zahlt keine Rechnungen mehr, die Versicherungen verweigern weitere Unterstützung, der Kühlschrank bleibt leer, Kleider bleiben in der Wohnung liegen und Anrufe und Mitteilungen auf dem Mobilphone unbeantwortet. Nur die Glimmstängel scheinen die einzige Form von Wärme zu sein, die sie zulässt, die ihre Leere wärmen.
Irgendwann wird die Not so gross, dass der einzige Ausweg darin besteht, Moja in eine staatliche Institution einzuweisen, der sie sich aber nur widerwillig ergibt und letztlich nur eine Verschnaufpause für die gebeutelte Mutter bedeutet. Ein kleiner Funken Hoffnung, eine Spur Perspektive, auch wenn sich Paulas Tochter jeder Annäherung durch das Pflegepersonal verschliesst, ausgerechnet sie, die doch auch einmal als Pflegende in einem Heim arbeitete.
Ruth Loosli leuchtet auf beeindruckende Weise hinein in eine Welt, die von der Diagnose Schizophrenie dominiert wird, von der Einsicht, dass nicht klar ist, was zum Ausbruch einer solchen Krankheit führt und wie der Weg aus dem Labyrinth dieser Krankheit zu finden ist. Wie einem als Mutter die Hände gebunden sind, wie sehr man versucht ist, die Fehler bei sich selbst zu suchen. Wie diese Krankheit alles dominiert und einem aus der gewohnten Umlaufbahn zu katapultieren droht. Wie die Sehnsucht nach Nähe und der Wunsch doch nur helfen zu wollen, alles in ein klebriges Loch stösst, aus dem weder Tochter noch Mutter aus eigener Kraft herausfinden.
„Mojas Stimmen“ ist ein durchaus gewagter Roman über Themen, die durch zu viel Nähe und Emotionalität schnell abgleiten könnten. Aber Ruth Loosli gelingt es, sich schreibend in eine sprachliche Nähe zu bringen, die wohl viel Emotionalität zulässt, aber immer jenen erzählerischen Abstand wahrt, den es braucht, um den Erzählsog von aussen zu erzeugen. „Mojas Stimmen“ ist eine starke Stimme! Ein Stimme, die sich bis in die eingefügten Schreibbilder der Autorin manifestiert!
Interview
Auf dem Titelbild deines Romans steht eine Steinfigur am Ufer eines Bachs. Stein ist fest, der Untergrund ist fest. Und doch braucht es nur einen Schups von aussen und alles zerfällt. Von allein richtet sich die Figur niemals mehr auf. Beginnt nicht genau dort die Krux vieler Krankheiten der Psyche?
Vielleicht müsste man sich aber auch fragen, ob der vermeintlich feste Untergrund nicht vielleicht doch Risse hat, ob die feste Schicht zu dünn ist, um längerfristig zu tragen. Dasselbe bei der Figur: Jeder Stein für sich ist zwar fest, aber dort, wo die Steine aufeinandergestellt werden, zittert man unwillkürlich ein bisschen. Nichts hält sie aufeinander als ein sorgfältig geprüftes Gleichgewicht, das jederzeit – von einem leichten Beben – einem stärkeren Wind, gestört werden kann. Tatsächlich wird sich die Figur, einmal zerfallen, nicht mehr von alleine aufrichten. Ob das Bild dann aber für die Krankheiten der Psyche zu verwenden ist? Würde man die psychischen Krankheiten vermehrt als «seelische Krise» bezeichnen, wäre im Wort «Crisis» auch der «Wendepunkt» zu erkennen. Und darin vielleicht die berühmte «Chance» – aber tatsächlich braucht es manchmal Jahre, um wieder neuen Boden zu finden oder ein Leben geht zu Ende, weil eine Krise, ein schwankender Boden nicht auszuhalten ist.
Paula will ihrer Tochter bloss helfen. Etwas, was man als Mutter oder Vater meistens noch kann, wenn die Kinder noch zuhause in der Verantwortung der Eltern stehen. Ein Wunsch, der unmöglich und selbstzerstörerisch werden kann, wenn die Kinder erwachsen, selbstbestimmt (oder auch fremdbestimmt) sind. Kann Mutter – oder Vaterliebe zerstören?
Persönlich würde ich das eher verneinen. Aber aus Fallbeispielen, aus Filmen und auch aus der Literatur wissen wir, dass elterliche Liebe zerstörerische Züge haben kann. Dann aber zerstört der betroffene Elternteil in der Regel auch sich selbst, in letzter Konsequenz.
Alles in unserem Leben muss funktionieren. Paula ist kurz vor 60. Sie muss funktionieren. Moja ist 25, hat eine Wohnung, einen Job. Sie muss funktionieren. Jonas, Mojas älterer Bruder, funktioniert. Bis alles zu kippen droht. Ist Schreiben der Versuch, eine Ordnung in das drohende Chaos des Lebens zu bringen?
Ja, ich finde jede schöpferische Tätigkeit trägt diesen Versuch, Ordnung zu schaffen in sich. Das kann auch bedeuten, eine Wand neu zu streichen, ein Bild zu malen, zu singen, ein Gartenbeet bepflanzen. Mein Schreiben hat auf jeden Fall damit zu tun, die Übersicht über mein Leben behalten zu wollen. Einige Dinge und Begebenheiten zu verstehen, zumindest im Rückblick. Denn Schreiben ist immer auch Nachdenken über sich selbst, häufig im Spiegel der anderen, der gesellschaftlichen Entwicklung. Auch in meinen Gedichten ist dieses Verstehen und Ordnen wollen bestimmt erkennbar.
Eine typisch mütterliche Reaktion auf Lebenskrisen der Kinder ist die Suche nach eigenen Versäumnissen, nach Fehlern in der Erziehung, dem eigenen Versagen. Man mache als Vater oder Mutter täglich 10 Fehler meint eine Studie. Leiden wir unter einer fehlgeleiteten Fehlerkultur?
Das kann man sicher so sehen. Ich bin selber auch so erzogen worden und aufgewachsen. Fehler gab es zuhauf, Lob und Anerkennung selten. Es braucht eine Balance von Beidem. Grundsätzlich ist eine wertschätzende Haltung, die Fehler akzeptiert, analysiert, aber nicht hervorhebt, eine wahre Förderung von Lebendigkeit und einem gesunden Vertrauen in sich und das Leben. Deshalb ist die Begleitung von Kindern so wichtig. Aber auch eine verzeihende Haltung sich selbst gegenüber, wenn man erwachsen ist und vielleicht selber auch erwachsene Kinder hat, die ihren eigenen Weg finden müssen.
„Ich bin sprachlos. Ich kann es nicht fassen“, sagt Paula, als eine Nachbarin von ihrem Schicksal erzählt. Ist das der Unterschied zur Literatur, die nie sprachlos wird? Literatur ist Aufbruch.
Wird Literatur nie sprachlos? Du meinst, nur weil der Literatur die Sprache als Material zur Verfügung steht, kann sie gar nicht sprachlos werden? Ein interessanter Gedanke. Dass Literatur Aufbruch bedeuten kann, dem stimme ich gerne und ohne Widerrede zu.
Ruth Loosli, geboren 1959 in Aarberg (Seeland), wo sie aufgewachsen ist. Sie hat drei erwachsene Kinder und ist ausgebildete Primarlehrerin. Seit einigen Jahren lebt und arbeitet sie in Winterthur. Sie veröffentlicht in Anthologien und Literaturzeitschriften. Ein erster Gedichtband «Aber die Häuser stehen noch» erschien 2009. Es folgte im Wolfbach Verlag (DIE REIHE, Band 5) 2011 «Wila, Geschichten»; dieser Band wurde mittlerweile auf Französisch übersetzt. Weiter ist 2016 der Lyrikband «Berge falten» im selben Verlag erschienen. 2019 veröffentlichte der Waldgut Verlag den Lyrikband «Hungrige Tastatur».
Lyrik von Ruth Loosli auf der Plattform Gegenzauber
Beitragsbild © Vanessa Püntener