Tom Kummer schreibt über einen Tom Kummer. Tom Kummer hat Kinder und verlor seine Frau durch Krebs, Tom Kummer im Buch genauso. Tom Kummer schreibt, Tom Kummer fährt Taxi. Und doch erzählt Tom Kummer kein Spiegelbild. Allenfalls eine Variante. Und weil Tom Kummer über einen Tom Kummer schreibt, kommt mir sein Erzählen derart nah, dass mich die Bilder über Tage nicht mehr loslassen.
Tom fährt einen 560er, manchmal, bei ganz besonderen Kunden einen 600er, stets nachts, vom Hotel zum Flughafen, von einer Tür zur andern. Manchmal auch nur einen Koffer. Tom ist bekannt und geschätzt für seine Diskretion, seine Zuverlässigkeit, seine Ruhe. Auch wenn Gespräche entstehen, Freundlichkeiten ausgetauscht werden, Fragen beantwortet werden müssen; Tom drängt sich nicht auf. Da ist nur das Auto, der Weg und die Aufgabe, den Kunden von A nach B zu chauffieren. Das einzige, was nicht zu seinem schwarzen Anzug, seiner schwarzen Limousine passt, ist das Foto von Vince und Frank, seinen beiden Söhnen und seiner Frau Nina, deren Stimme er noch immer hört, deren Duft er noch immer in der Nase mit sich trägt, wenn er bei seinem jüngeren Sohn Vince morgens eine Weile unter die Decke schlüpft. Das Foto ist das, was er wirklich mit sich herumchauffiert, immer, dauernd. Die Angst, genau das zu verlieren, was im Moment, als das Foto geknipst wurde, Familie ausmachte. Nina ist tot, Frank achtzehnjährig in den USA geblieben und der zwölfjährige Vince zuhause viel zu oft alleine.
«Ich warte darauf, dass sich meine Trauer löst, wie Verkehr.»
„Von schlechten Eltern“ ist ein buchgewordener Roadmovie aus einer Zwischenwelt, zwischen der Schwärze der Nacht und den Bildern, die sich im Kopf festsetzen, in die Schwärze hineinprojiziert werden. Tom schiebt sich während seinen Auftragsfahrten farbige Pillen in den Mund und konzentriert sich auf die weissen Streifen auf der Fahrbahn, schnappt auf, was Passagiere in den Fahrgastraum bringen; Geschichten, Spannungen, Gerüche, fremdes Leben. Während ihm das eigene Leben durch die Finger zerrinnt, das, was an Familie geblieben, durch Denunziation und Ämter bedroht ist. Tom funktioniert, fährt nachts den Mercedes quer durch das Land, um morgens bei seinem Sohn Vince aufzuwachen, das Frühstück zuzubereiten, ihn in die Schule weggehen zu sehen, um dann die Vorhänge zu ziehen, weil Tom die Helligkeit nicht mehr erträgt, das Licht, das alles ausleuchtet und zu nehmen droht, was ihm durch den Tod seiner Frau genommen wurde.
Rauchende Ruinen, Tierkadaver, schmieriger Regen. Apokalyptische Szenen an den Rändern der Dunkelheit auf seinen Fahrten durch ein eingeschwärztes Land. Tom fährt nicht einfach Auto. Das Autofahren transportiert ihn – in eine andere Welt. Und im Fond seines Wagens Gestalten, als ob sie einem Theater entstiegen wären, die sich schälen, offenbaren, die versprechen und umgarnen.
«Manchmal fühlt sich die Welt an, als hätte ich keine Verbindung mehr zu lebenden Dingen. Und je mehr sich ein Mensch dem Erleben entzieht, desto näher kommt er dem Tod.»
Der Roman ist der Countdown bis zum Moment, wo Tom seinen älteren Sohn Frank vom Flughafen abholen kann, zusammen mit Vince. Frank, den Jean-Luc, sein Chef mit seinen „Kontakten“ auf der anderen Seite des Ozeans aufgespürt hatte, nachdem er sich bei seinem Vater während Tagen nicht gemeldet hatte. Der Roman ist die Landschaft eines Verlorenen, der die Enden seines Lebens zu halten versucht, der gegen das Verschwinden und Entschwinden kämpft, der ein guter Vater, eine gute Familie sein will, dem das Leben abhanden gekommen ist durch den Tod seiner Frau. „Von schlechten Eltern“ ist intensiv, konzentriert, traumwandlerisch und mit Bildern aufgepumpt, die sich wie böse Träume aneinander reihen. „Von schlechten Eltern“ ist tief wie schwarzes Wasser, wie Vantablack, jenes Schwarz, das fast nichts mehr reflektiert und magisch in die Tiefe zieht.
Mag sein, dass Tom Kummer, jener Tom Kummer, der schreibt, in seinem Leben Han erlebte, jenen koreanischen Begriff für extreme Traurigkeit. Aber sein Roman schöpft daraus eine milde Wärme, jene Wärme, die aus jener Liebe entsteht, die nur in der Familie zu existieren vermag. Grossartig und absolut würdig in der Runde der besten Bücher zu erscheinen.
Tom Kummer, geboren 1961 in Bern, ist ein Schweizer Autor. Als Journalist löste er im Jahr 2000 wegen fiktiver Interviews einen Medienskandal aus. Nach mehreren Jahren in Los Angeles mit seiner Familie, lebt er wieder in Bern. Er schrieb u.a. «Good Morning, Los Angeles – Die tägliche Jagd nach der Wirklichkeit» (1997) und «Blow Up» (2007). Sein letzter Roman «Nina & Tom» (2017) wurde von der Kritik gefeiert.