Dass die Welt nicht die ist, wie sie auf Kalenderblättern und Hochglanzmagazinen, Instagramkanälen und Webseiten erstrahlt, wissen wir längst. Dass inmitten unserer Welt aber noch ganz andere Welten existieren, im Schatten der unsrigen, in Ritzen, Höhlen, Zwischenräumen und Brachen, das übersehen wir geflissentlich oder auch unwissend. Cornelia Travnicek, Romanautorin, Lyrikerin und Übersetzerin führt mich in ihrem neuen Roman «Feenstaub» in eine solche Zwischenwelt.
In den Wohlstandsländern Mitteleuropas leben Tausende obdachloser Strassenkinder, meist unsichtbar, im Verborgenen, in einer Welt, die den Vorübereilenden verschlossen bleibt. Petru, Cheta und Magare sind drei solche Jungs. Sie leben auf einer Insel, einem Zwischenreich, mitten auf einem Fluss, und doch mitten in einer Stadt. Immer wieder besucht sie Krakazil, der von den drei Jungs seinen Anteil einfordert von den täglichen Gaunereien als Taschendiebe, ihren Streifzügen durch die Stadt. Ein Mann, der die drei Knaben mit Versprechungen in der Hand hat, von jedem der dreien ein Pfand mit sich trägt, das sie an ihn bindet. Ein Mann, der die drei Jungs mit ihrer Angst im Griff behält und auch nicht davor zurückschreckt, handgreiflich zu werden.
«Manchmal träume ich. Meine Träume haben einen ausgefransten Rand.»
Eines Tages lernt Petru ein Mädchen kennen. Marja. Ein Mädchen mit einem Zuhause, einer Familie, einem Vater, einer Mutter, einem grossen Hund. Ein Mädchen, dass zur Schule geht, während Petru nicht einmal lesen kann. Sie beide ziehen sich an, weil beide das Gegenüber zu nichts zwingen, weil sie vorsichtig, fast ängstlich bleiben. Marja nimmt Petru mit in ihre Familie und Petru lernt zum ersten Mal kennen, was Familie, Zusammengehörigkeit und ein Zuhause bedeuten könnte. Marja lernt Petru sogar das Lesen. Aber während an einem Ort die Nähe wächst, beginnt auf der Insel das Gefüge zu bröckeln.
«Die Bäume sind aus Kristall. Am Himmel hängen drei erstarrte Sonnen, eine grosse und zwei kleinere, Abglanz aus weissem Licht.»
Einziges Mittel des Trosts auf der Insel ist Feenstaub, ein Pulver, das einem wegträgt, das einem unsichtbar macht, das einem fliegen lässt. Ohne ihn würden sie die Farben nicht mehr erkennen, wäre alles nur noch im Grau. Sie tragen ihn in kleinen Beuteln auf ihrem Laib, Beuteln, die dem grossen Krakazil verborgen bleiben, im Gegensatz zu den Handys, von denen der Meister nichts wissen will, die er ihnen unter Drohungen verbietet. Aber eines Tages erscheint Krakazil wieder auf der Insel, zusammen mit einem kleinen Jungen, mit Luca, den er bei ihnen zurücklässt mit der Aufgabe, auch aus ihm einen Dieb zu machen. Luca taugt aber nicht, wimmert und bettelt nach seiner Familie, die man ihm genommen hat. Und als Cheta Petru verrät, dass er eine Pistole versteckt hält und eigentlich nur auf das grosse eine Ding hofft, dass sie frei machen wird, weiss Petru, dass das Gefüge zu zerbrechen droht.
«Zu Hause, das ist, wo man dich haben will … Aber das verstehen sie nicht.»
Cornelia Travnicek erzählt eine Geschichte aus einer Zwischenwelt, nicht nur in seiner Handlung, sondern auch sprachlich. Eine Variante der Peter-Pan-Geschichte, von den verlorenen Jungs, die nie erwachsen werden ,von jenem Feenstaub, mit dem man fliegen kann. Cornelia Travniceks Sprache bleibt schwebend, orientiert sich nicht an einer stringenten Handlung, erzählt nicht nach, sondern zeichnet Bilder, die an Lyrik erinnern. Die Handlung erschliesst sich erst nach und nach und die Bilder, die Cornelia Travnicek malt, erklären nicht, sondern vermitteln Zustände, Wahrnehmungen und Stimmungen. Mag sein, dass es LeserInnen gibt, denen dieser sprachliche Feenstaub zu zauberhaft ist. Wer sich aber auf dieses Leseabenteuer einlässt, wird reich belohnt, belohnt durch Sätze, die ganze Geschichten erzählen, Sprachmelodie, die im wahrsten Sinne des Wortes bezaubert und den Mutigen etwas schenkt, was in der Literatur so nur ganz selten gelingt; Prickeln!
Cornelia Travnicek, geboren 1987, lebt in Niederösterreich. Studium der Sinologie und Informatik, arbeitet als Researcher in einem Zentrum für Virtual Reality und Visualisierung. Für ihre literarischen Arbeiten wurde sie vielfach ausgezeichnet. 2012 erschien mit grossem Erfolg ihr Debütroman «Chucks», der 2015 verfilmt wurde. Nach dem Roman «Junge Hunde» (2015) und dem Gedichtband «Parablüh«» erschien 2019 ihr erstes Kinderbuch «Zwei dabei» (illustriert von Birgitta Heiskel).
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