Eine grosse Qualität der langen Festivaltradition in den Walliser Alpen ist die Vielfalt der Gäste, die nicht nach deren Publizität eingeladen werden, sondern ob sie etwas zu sagen haben, sei es literarisch, gesellschaftlich oder kulturell. So kreisen Gespräche in verschiedenen Formaten weit über Literatur, Kultur hinaus, um existenzielle Fragen, nicht zuletzt darum, ob und wie die Welt zu retten ist.
Immer und immer wieder dreht sich Literatur um Erinnerungen. Literatur ist die Kunst des Erinnerns, sei es im Zusammenhang mit Historie oder um das, was man in sich trägt, eingegraben bis in die Gene. Historisches Erinnern, das sich unweigerlich und gleichermassen mit Deutung und Wertung verbindet, ist wie persönliche, individuelle Erinnerung Motor des Tuns und Denkens. Literatur, selbst wenn sie sich oberflächlich betrachtet mit Gegenwart oder Zukunft beschäftigt, ist immer transformierte Erinnerung. Und wenn sich Aleida und Jan Assmann, gemeinsam Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, in Leukerbad mit ihrem Schreiben vorstellen, dann gleich mehrfach und ineinander verwoben. Über ihre Forschungen zum Thema „Kollektives Gedächtnis“ wird in verschiedenen Gesprächsformationen diskutiert und schnell klar, dass sich Literatur nicht nur mit Erinnerung befasst, sondern mit ihrem Niederschlag ganz deutlich zu „kollektiven Erinnerung“ beiträgt, in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Eine kollektive Erinnerung, die in eine ganze Generation wirkt.
Der Umbruch unserer Zeit manifestiert sich nicht nur in der Walliser Vegetation, den Bäumen, die nach einem trockenen Jahrhundertsommer und permanenter Klimaerwärmung von Hitzstress und Trockentod bedroht werden, nicht nur in der Umkehrung einer digitalen Gesellschaft, die nach der Freude über globale Internetvernetzung immer mehr zur Desinformationsgesellschaft wird, sondern in Unwahrheit und Lüge, die das kollektive Bewusstsein bedroht. Man misstraut scheinbaren Wahrheiten mit Recht, stellt kollektive Erinnerung in Frage, die an nationale Interessen gebunden ist.
Der Umbruch zeigt sich auch in der Literatur, der im Hitzestress der Gegenwart ihre Selbstverständlichkeit und Selbstsicherheit genommen ist, nicht zuletzt wegen der schwindenden Zahl von Leserinnen und Lesern, solchen die bereit sind, sich nicht bloss unterhalten zu lassen, sondern sich mit Literatur den Fragen der Zeit zu stellen.
Für Zoltán Danyi, 1972 als Angehöriger der ungarischen Minderheit in Senta, damals Jugoslawien, geboren, wo er auch heute noch lebt und schreibt, ist das Erinnern an den Zerfall Jugoslawiens ein Trauma, ein kollektives Trauma einer ganzen Generation. Was in seiner Heimat geschah, verstörte ihn, weil er sich permanent mit der Frage konfrontiert sah, für welche Seite er sich in diesem jahrelangen Konflikt zu entscheiden hatte. Als Schriftsteller schaffte er sich die Situation eines Aussenstehenden, der beobachtet und beschreibt, eine Position, die ihm als Mensch ganz offensichtlich nicht wirklich gelingen wollte.
Zoltán Danyi las in Leukerbad aus seinem bei Suhrkamp erschienenen ersten Roman „Der Kadaverräumer“. Der Erzähler wird in der Vojvodina in die serbische Armee eingezogen und Augenzeuge kriegerischer Gräuel, wird nach dem Krieg „Kadaverräumer“, der tote Tiere von den Strassenrändern zu sammeln hat, wird Schmuggler, Flüchtling, unglücklich Liebender, Leidender an seinem Körper. Ein Mann, der nicht verdauen kann. „Der Kadaverräumer“ ist aber nicht einfach nacherzählte Erinnerung, sondern in langen mäandernden Sätzen ein in sieben Klagelieder gefasster Gedankenstrom. Er erschliesst sich mir als Leser nicht so einfach, da die Schichten des Fliessens vielfach sind, starke Bildern und Sätze zeigen, was der Wahnsinn eines Krieges und dessen Folgen in einem Menschen für Katastrophen anrichten können, auch dann, wenn die offensichtliche Aggression längst Erinnerung ist.
Dass es aber nicht zwingend die Internationalität sein muss, der grosse Verlag, die Verbindung mit einem Krieg, der sich zu einem kontinentalen Trauma auswächst, beweist die Ostschweizerin Johanna Lier, die ihr künstlerisches Schaffen zuerst als Schauspielerin begann (Bekannt wurde sie in der Rolle der Tochter Belli in Fredi Murers Film Höhenfeuer.) In ihrem beim umtriebigen Kleinverlag „die brotsuppe“ erschienenen Roman „Wie die Milch aus dem Schaf kommt“ macht sich die Erzählerin und Protagonistin Selma auf die Suche nach ihrer Herkunft. Nach dem Tod ihrer Grossmutter findet Selma unerwartet in einer Tupperware-Box Papiere und Hinterlassenschaften, die klar machen, dass nichts so ist, wie es schien. Selma macht sich auf eine lange Reise, sowohl zeitlich wie geographisch, weit zurück ins 19. Jahrhundert, tief hinein in die bäuerliche Welt des thurgauischen Donzhausen, weit weg bis in die Ukraine und nach Israel.
Familiengeschichte ist ein dauerndes Verschwinden in Tabus oder blosses Vergessen. Johanna Lier erzählt von starken Frauen, von Geschichten und Geschichte, davon, was mit Lücken in der Erinnerung geschieht, wie Abgründe in der Vergangenheit, ob ausgesprochen oder nicht, bis in die Gegenwart wirken. „Wie die Milch aus dem Schaf kommt“ ist ein schwergewichtiges Stück Literatur in starken Sätzen, raumfüllend und mit grossem Gestus erzählt.
Beitragsbild Aleš Šteger und Akkordeonist Jure Tori © Literaturfestival Leukerbad