Herr Faustini ist das, was man einen Müssiggänger nennen kann. Ein Mann der Sorte Mensch, der sich nicht hetzen lässt, der weder getrieben noch geschoben wird von all den Errungenschaften der Neuzeit. Ein überaus sympathisches Fossil. Ein überaus sympathisches Buch!
Nicht dass ich die Bezeichnung „Fossil“ im Zusammenhang mit dem Wesen und der Erscheinung Herr Faustinis als Schimpf verstehe. Wie gerne würde ich mir von diesem feinsinnigen Mann die eine oder andere Scheibe abschneiden. Weil er ein Suchender ist, der sein Leben nie der Suche verschreibt, weil er mit offenen Sinnen und fast kindlichem Wesen durch eine Welt geht, die so ganz anders funktioniert, sieht und findet er die kleinen und grossen Paradiese des Seins. Auch wenn dieser schmale Roman kein Märchen ist und alles auf dem Boden der Realität bleibt, hat die Geschichte etwas Märchenhaftes. Es ist eine Suchwanderung, die Geschichte eines Mannes, der sich auf Begegnungen einlässt, die ihn auf seltsame Weise immer weiter bis zu seinem Glück führen.
Ich traf mich mit dem Autor vor einiger Zeit in Wien, der Stadt, in der er wohnt und schreibt. Er führte mich in ein Restaurant hoch über den Dächern der Stadt, wo wir bei einem Glas Wein von unseren Leben erzählten. So wie Wolfgang Hermann in seinem Roman über Herr Faustini. So wie der Autor ist Faustini im Vorarlbergischen am Bodensee aufgewachsen und in Wien hängen geblieben. Herr Faustini ist passionierter Spaziergänger und Beizensitzer. Unterschiede zwischen Hermann und Faustini gibt es viele, Gemeinsamkeiten bestimmt auch. Faustini trinkt mit Vorliebe Hagebuttentee in Gasthäusern, in denen meist Bier oder billiger Wein getrunken wird.

In einem solchen Gasthaus trifft Herr Faustini den Mann mit der Glatze, Martin, der ihm seine Geschichte erzählt. Martin und Luther. Luther, ein Eichhörnchen, das er stets mit sich trägt. Die Geschichte wie er noch als Junge in ein Irrenhaus in Wien abgeschoben wurde, unverstanden weggesperrt. Wie er in jenen kalten Mauern seine Liebe fand, eine junge Frau, etwas älter als er. Wie man sie erwischte und auseinanderriss. Wie man ihnen verbot, Kontakt miteinander aufzunehmen. Wie er sie verloren habe und die Erinnerungen keinen Tag in seinem öden Leben verblassen. Er bittet Faustini, ihn nach Wien zu begleiten, jene Orte aufzusuchen in der leisen Hoffnung, vielleicht doch noch Spuren seiner grossen Liebe zu finden.
Und weil Herr Faustini Herr Faustini ist, sitzen sie schon am nächsten Tag im Zug unterwegs in die grosse Stadt am anderen Ende des Landes. Dorthin, wo Faustini einst mit seiner grossen Schwester und ihrem damaligen Freund seine erste grosse Reise machte, später noch weiter, auf die andere Seite des eisernen Vorhangs, wo die Städte im Russ beinahe erstickten. Beide Männer kehren auf ihre Weise in die grosse Stadt zurück, eine Stadt, in der nichts mehr ist, wie es einmal war. In eine kleine Pension, in der sich die beiden unterschiedlichen Männer wieder verlieren und Faustinis Reise über Wiens Gruselkabinett zu seinem Glück ein fulminantes Ende findet.
„Herr Faustini und die Glatze der Welt“ ist der sechste Faustini-Roman. Wer einmal dem Charme dieses schrulligen Einzelgängers erlegen ist, freut sich unweigerlich auf ein neues Kapitel in der seltsam abgerückten Welt des Herrn Faustinis. Wolfgang Hermann Faustini-Romane sind etwas Eigenständiges. Seine Art des Sehens, des Begegnens mit Dingen und Menschen führt Faustini an Orte, in Zonen, die den Gehetzten und Geschobenen verborgen, verschlossen bleiben. Faustini, ein Menschenfreund durch und durch, von kindlicher Ehrlichkeit, durchdrungen von Vorsicht und Respekt, ist ein Mann, der unerschrocken an das Gute glaubt, auch wenn er hinsichtlich der Zukunft mit der Dummheit der Menschen nur schlecht zurecht kommt. Ein Mann, der Ordnung in der Welt sucht. Ein Mann, der schon als Kind Herr Faustini gewesen sein muss, ein Aussenseiter, der sich nicht darum schert, einer zu sein.
Wolfgang Hermann (1961) wuchs in Vorarlberg auf, studierte Philosophie in Wien, wo er nach langen Auslandsaufenthalten wieder lebt. Sein erstes Buch „Das schöne Leben“ (Hanser 1988) wurde mit dem Jürgen Ponto Preis ausgezeichnet. Zuletzt erschienen: „Herr Faustini bekommt Besuch“, „Insel im Sommer“, „Bildnis meiner Mutter“, „Der Garten der Zeit“ mit Zeichnungen von Timna Brauer, „Beduinen in Wien“. Übersetzungen in zahlreiche Sprachen.
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Beitragsbild © Gallus Frei (mit Wolfgang Hermann über den Dächern der Stadt Wien)