Sonntag um 11.
Die Literarische Vereinigung Aarau lädt zum Literaturapéro in der Aula des Pestalozzischulhauses in Aarau ein. Es liest Urs Richle, Schriftsteller, Medieningenieur, Forscher und Dozent am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel. Ein gewichtiger Mann, der etwas zu den drängenden Fragen der Gegenwart zu sagen hätte. Aber die Jugend fehlt.
Leo ist Mitte zwanzig und wird bei einer nicht bewilligten Demonstration von einem Hartgummigeschoss derart unglücklich getroffen, dass er an den Folgen der Verletzung stirbt. Eine Demonstration gegen die Allmacht der Banken. Vielleicht ist das in Aarau anders. Vielleicht freut man sich dort derart über das 40-Franken-Willkomensgeschenk der Bank in der Nachbarschaft des Schulhauses, dass man nicht unbedingt einem «Nestbeschmutzer» zuhören will, der sich zu allerhand Gesellschaftlichem kritisch äussert. Vielleicht hat der Student an einem Sonntag einfach nicht die Lust, sich in einen Disput einzumischen, darüber nachzudenken, was mit einer Gesellschaft passiert, die sich dem Diktat der Technik anzuvertrauen droht.
Im Roman «Anaconda 0.2» von Urs Richle findet Leos Vater im verlassenen Zimmer seines Sohnes eine als Spieluhr getarnte Bombe. Während die Mutter am Tod ihres Sohnes zerbricht, stochert der Vater in den Überresten der Existenz seines Sohnes. Was er findet, bringt nur noch mehr Rätsel. Wer war sein Sohn? Wann verloren er und seine Frau ihren Sohn? Wem galt die Bombe im Zimmer des Sohnes?
In den 70er Jahren schrieb der DDR-Schriftsteller Ulrich Plenzdorf den Montageroman «Die Leiden des jungen W.» Ein Roman über einen Vater, der nach seinem «verschwundenen» Sohn sucht, eine schmerzhafte Suche, denn der Sohn ist tot und der Vater interessiert sich zu spät.
«Anaconda 0.2» ist auch eine Vater-Sohn-Geschichte. Und eine Geschichte darüber, was Künstliche Intelligenz und Big-Data-Konzerne mit der Welt anrichten könnten, wenn die Gesellschaft die Augen schliesst und nur das grosse Geld wittert. Ist das der Grund, warum kein Judendlicher, keine Schüler der Handelsschule an der Lesung teilnahmen? Wäre das Buch nicht genau der richtige Aufhänger gewesen für notwendige Diskussionen über die Zukunft der Jugend?
Urs Richle erzählt vom Kampf gegen die Ohnmacht und ist sehr davon überzeugt, dass der Kampf nicht aussichtslos ist. Leo hat die 26 Buchstaben des Alphabets zu seiner Waffe gemacht, einer Waffe gegen die bereitwillige Ergebenheit der Allgemeinheit.
Immer noch zu wenig Gesprächsstoff? Liest man heute keine Bücher mehr, die provozieren sollen?
Urs Richle ist Vater dreier Kinder. Seit 15 Jahren beschäftigt er sich mit Informatik, ursprünglich um dem ökonomischen Druck beim Schreiben zu entfliehen, mit dem Wunsch Drehbücher zu schreiben. Nun hat ihn das Thema so sehr gepackt, dass daraus 3 Romane werden sollen. 2010 erschien «Das taube Herz», die «abenteurliche Geschichte über den Menschheitstraum, eine denkende Maschine zu bauen». Im 18. Jahrhundert waren es die Apparatebauer mit Allmachtsphantasien, heute sind es Genwissenschaftler und Programmierer. Urs Richle bleibt zuversichtlich. Er ist kein Schwarzmaler, kein Pessimist. An diesem Sonntag in Aarau wäre eine heisse Diskussion im Anschluss an die Lesung erfrischend gewesen. Schade.
Urs Richle: «Solange es Leute wie Edward Snowden gibt, sind wir den Maschinen nicht unterlegen. Nur wenn wir uns nicht mehr getrauen, gegen gesetzte Regeln zu verstossen, werden sie überhand nehmen.»
Grossen Dank an die «Literarische» Aarau, die zu dieser Veranstaltung eingeladen hatte.
Bild; Urs Richle