«Language is a virus», ein Zitat von William S. Burroughs, steht dem Roman voraus. Ein vieldeutiges Zitat, eines das genau beschreibt, was mit mir passierte, während ich den neuen Roman «Anaconda 0.2» von Urs Richle las, ein literarisches Abenteuer!
Nichts mehr wünsche ich mir als Leser; Bücher, die mich mitreissen, die mich meiner Kontrolle entziehen, die mich schütteln, die mich treffen. Als ich den Roman «Anaconda 0.2» fertig gelesen aus den Händen gab, blieb ich noch eine Weile bloss sitzen, vielleicht ein bisschen betäubt, vielleicht geschlagen, aber mit Sicherheit beglückt und begeistert.
Leo, knapp über zwanzig, wird bei einer Demonstration gegen die Allmacht der Banken von einem Hartgummigeschoss der Polizei getroffen. Er verletzt sich mehr als unglücklich und schwer, fällt ins Koma und stirbt wenig später im Spital, während seine Familie an seiner Seite in Schockstarre zurückbleibt. Der Roman erzählt aus Sicht des Vaters die verzweifelte Suche nach einem verlorenen Sohn. Leo war nicht lange ausgezogen, damals im Streit, einer Tatsache, die zur Loslösung zu gehören schien. Beim Aufräumen des ehemaligen Kinderzimmers, das Leo nur noch als Flucht- und Rückzugsort diente, findet der Vater eine antike Spieluhr (eine Uhr aus dem 18. Jahrhundert, die «Grande Dame», aus dem Gebeinen der Geliebten des Uhrmachers Jean-Louis Sovary hergestellt, jener Uhr, die schon der Mittelpukt in Urs Richles letzten Roman «Das taube Herz» war). Ein geniales Uhrwerk, das in seinem Innern eine banale Paketbombe versteckt. Wer war sein Sohn? Wer oder was hatte ihn so sehr entfremdet, dass eine stumme Bombe zurückbleibt?
Das ist aber nur die eine Ebene dieses überaus gelungenen und grossartigen Romans. Leo ist tot, aus einer Familie herausgerissen. So wie sich der Vater in der Vergangenheit des Sohnes verbeisst, will die Mutter ein Gesicht, den Namen des Mörders, den Prozess gegen jenen Mann, der das Hartgummigeschoss abgefeuert hatte. Aus dem Krieg, den der Sohn als Aktivist und Hacker, Demonstrant und Konspirant führte, wird ein Krieg zwischen den Eltern, die in ihrem Schmerz den Weg aus der Trauer in komplett verschiedenen Richtungen suchen. Ein Krieg, der auch die beiden Schwestern Leos einsam werden lässt. Ein Krieg, der unsere Kinder an den irreparablen Zuständen von Umwelt und Gesellschaft zerbrechen lässt.
«Anaconda 0.2» ist aber auch ein Einblick in eine mir fast völlig fremde Welt, obwohl ich mit Computern arbeite, die Vernetzung allgegenwärtig ist und ich mir vieler Gefahren bewusst bin. Urs Richle arbeitet neben seinem Schreiben und der Dozentur am Literaturinstitut in Biel als Medieningenieur an Forschungsprojekten der Universität Genf. Was der Autor an Einblicken in die Welt der Big-Data-Konzerne ausbreitet, ist nicht bloss angelesene Recherche, sondern Insider-Wissen. Wenn Urs Richle sein Personal im Roman über die Möglichkeiten und Bestrebungen dieser in sich geschlossen scheinenden Welt erzählen und fachsimpeln lässt, wird mir schwindlig. Hinter dem schweren Tuch des Wissens öffnet sich nicht nur ein weites Feld, das mir meist verborgen bleibt, sondern auch ein beängstigend tiefer Abgrund.
Er wird einem beinahe schwindlig ob der Dimensionen und Perspektiven, die mit dem Lesen dieses Roman entstehen. Urs Richle gibt Einblicke in eine Welt der Wissensverarbeitung und Wissenskonstruktion durch künstliche Algorithmen, dass mir fahl im Bauch wird. Als würde ich ganz unvermittelt in einen ungeahnten Abgrund blicken. Urs Richles Roman saugt sich fest. Wo ich als Begleiter eines zurückgelassenen Vaters mit den schwarzen Löchern rund um seinen Sohn Zeuge werde, verändert der Autor mit immer neuen Wendungen und Einsichten meinen erstaunten Blick auf eine sich an Dimensionen potenzierendes Geschehen. So sehr, dass ich mir im letzten Teil des Romans zwischendurch die Augen reiben muss ob der Rasanz, mit der mich Urs Richle zum Finale peitscht.
Ein Ereignis!
Ein kurzes Interview:
Kinder werden gross in einer Zeit, die an positiven Perspektiven zu mangeln droht. Müssen wir uns vor unsern Kindern fürchten? Ich glaube nicht, dass wir uns vor unseren Kindern fürchten müssen. Aber wir haben allen Grund uns vor dem zu fürchten, was wir ihnen hinterlassen: eine kanibalistische (Menschen zerstörende) Marktwirtschaft, unkontrollierbare Maschinen, unkontrollierbare genmanipulierte Organismen und Viren, zerstörte Oekosysteme…. die Liste ist lang…
Sie beschreiben in ihrem Roman, was mit einer Familie geschieht, wenn ein Kind stirbt. Der Alptraum aller Eltern. Da ist der Verlust eines Sohnes, das Gefühl, ihn mehrfach verloren zu haben. Sie haben auch Familie. Ist da auch ein Stück ihrer Angst in den Roman eingepackt? Der Verlust eines Kindes ist tatsächlich das Schlimmste was einer Mutter/einem Vater widerfahren kann. Ja, da ist ein bisschen meiner persönlichen Angst dahinter. Auch die Angst, ein Kind so zu verlieren, dass man, wie Sie sagen, Angst vor ihm bekommen müsste (Entwicklung hin zu einem religiösen Fanatiker z.B.).
Es ist nicht der erste Roman, der ihre Faszination für antike Uhrwerke spiegelt. Darum, weil jene Kunstwerke die «Vorgänger» der Computer waren, auch wenn von Kunst bei Computern nicht viel zu spüren ist? Die Spieluhr «La Grande Dame» bildet die Verbindung zum Roman «Das taube Herz». Es handelt sich hier um das Projekt einer Trilogie – Vergangheit-Gegenwart-Zukunft. «Anconda 0.2» ist der zweite Teil. Am 3. schreibe ich zur Zeit.
Nimmt man ihr Schreiben unter Computerfachleuten wahr? Reagieren sie? Die Literaturwelt und die Informatiker-Welt sind zwei recht getrennte Welten. Aber das hat vielleicht auch damit zu tun, dass ich als Informatiker im franzäsischen Sprachraum tätig bin. Kaum jemand hier liest deutsch…. Aber ich achte auch darauf, dass es nicht zu technisch wird. Beim «Tauben Herz» kam ein bisschen der Vorwurf, dass zuviel Mechanik beschrieben wird. Es geht ja um die Figuren, um die Menschen in dem ganzen Spiel, nicht um die technische Umsetzung.
Vielen Dank!
Urs Richle, 1965 im Toggenburg, einem kleinen Bergtal in der Ostschweiz geboren, unterrichtete ein Jahr lang an der Primarschule in Gais, Kanton Appenzell. Von 1989 bis 1992 lebte er in Berlin, wo er zuerst Soziologie und Philosophie zu studieren begann, danach das Studium jedoch abbrach, um sich ganz dem Schreiben zu widmen. Seit 1993 lebt Urs Richle in Genf. 1996/97 absolvierte er die Ausbildung an der Drehbuchwerkstatt München (Hochschule für Film und Fernsehen München). Von 2002 bis 2006 studierte er an der Ingenieursschule des Kanton Waadt und erlangte 2006 das Diplom „Ingénieur HES en Ingénieurerie des médias, orientation IT“ (Ecole d’ingénieur COMEM+, Lausanne). Diplomarbeit: WikiViz für TECFA, Université de Genève. Seit Mai 2006 arbeteitet Urs Richle als Ingenieur im Rahmen verschiedener Forschungsprojekte an der Universität Genf – und ist weiterhin als freier Autor tätig. Seit Oktober 2007 unterrichtet Urs Richle Literarisches Schreiben am Schweizerischen Literaturinstitut der HKB (Hochschule der Künste Bern).
(Titelbild: Urs Richle)