Die Schweizer Literatur ist ein einziges Kleinod! Für die Abrundung dieser Würdigung braucht es dann noch die Begriffe pingelig, verschmitzt-kindlich und unschuldig-intellektuell. Die ideale Erzählposition für die Schweizer Literatur ist immer noch das Traumpaar Heidi-Oheim. Die eine fragt klug, und der andere antwortet altklug.
Gastbeitrag
von Helmut Schönauer, Innsbruck
Urs Heinz Aerni ist ein Buchbesessener, der mit Händen und Füssen Themen zusammenträgt, um daraus ein Buch zusammenzustellen. Seine Genre-Beschreibung für dieses Tun nennt er «eine Art Feuilleton oder Sammelsurium als Buch». Da Literatur zudem überall auftreten kann, wird man ihrer nur Herr, wenn man mit ihr eine Lesereise plant. «Lugano – Konstanz» ist also eine Art Fahrplan für Lektüre. Aufregend, dass dabei das stille Leseörtchen Innsbruck dabei ist.
Einem Buchfan macht es nichts aus, wenn man die angebotenen Bücher mit starken Wörtern auffrisiert, ja selbst das Klischee nimmt er in Kauf, wenn dadurch jemand ins Innere eines Buches gelockt werden kann. Auch hier gilt die kluge Schweizer Tugend: Promotion darf wie ein Schweizermesser alles, wenn dadurch ein überdimensioniertes Ganzes in menschlich kleine Portionen zerlegt werden kann.
Urs Heinz Aerni hat gewissermassen eine eigene Literaturform erfunden. Es handelt sich dabei um einen essayistischen Kurzimpuls, der verlässlich in einen Buchtipp mündet. «Wann immer der Vortragende vorne den Mund aufmacht, kommt hinten ein Buch heraus», lachen die Kenner seiner Vorgehensweise.
Öffentliches Telefonieren, Gespräche bei einer Zugspanne, Orientierungslosigkeit in einer Grossbuchhandlung, Nebenbemerkungen zu einem Jazzabend oder Suche nach einem verlorenen Buchstaben: Eine Begebenheit kann im Sinne Robert Walsers nicht klein genug sein, dass sich nicht daraus jene feine Stimmung komponieren liesse, mit der im Herbst ein Blatt zu Boden segelt. Diese ‘Verniedlichungsmethode’ hat den Vorteil, dass auch grosse Unglücke dadurch erträglich werden und Menschen unterschiedlichsten Charakters miteinander ins Gespräch kommen. Denn sollte der Diskurs nicht in Gang kommen, ist bei der Kleinheit des Themas nichts verloren.
Mit diesem Denkansatz unterscheidet sich der Autor vehement von den germanistischen Grossanalysten, die immer erst eine Stunde lang Hegel oder Heidegger zitieren, ehe dann daraus ein Sprachproblem herausgefiltert wird, dass verlässlich nichts mit der Menschheit zu tun hat. Innsbruck kommt durch diese Zuneigung des Büchernarren zu einer Würdigung, die seiner intellektuellen Grösse entspricht. Der Autor zitiert nämlich: «Soeben komme ich zurück aus Innsbruck!» Dann hört man nichts mehr von der Stadt. Es wirkt, als sei der Autor froh, daraus entflohen zu sein, um wieder etwas Vernünftiges denken zu können. «Digitales Grüssen» etwa, mit passendem Buchtipp.
An seine Grenzen kommt der Schweizer Allrounder freilich, als er dem Witz etwas Positives abgewinnen soll. Ein Buch namens «Soll das ein Witz sein?» bringt Aerni an den Rand des Gelächters. Er versucht, den Witz für die Schweiz zu retten, indem er ihn zur Kunst erklärt. In einem Bonus-Track gibt es Ausschnitte aus früheren Archiven. Als ob Archive nicht immer früher angelegt sein müssten, die Zukunftsarchive wären nämlich für die Literaturbranche ziemlich harte Kost. Aus der Vergangenheit werden einige Interviews hervorgeholt, worin die längst verstummten Autoren um die Jahrhundertwende herum noch einmal eine Stimme kriegen, ehe dann der hintere Buchdeckel kommt und alles verstummen lässt.
«Aerni: So sitze ich nun mit zwei Dinosauriern hier am Tisch. Thomas Hettche: Dass Sie hier so ein Gespräch aufzeichnen, das länger als zwei Minuten dauert, qualifiziert Sie auch als Dinosaurier.» Schreiben als Verlangsamung des Lebens!
Und die finale Erkenntnis des Urs Heinz Aerni: Bücher, die nicht gelesen werden, sind so, wie wenn sie nicht da wären.
Helmut Schönauer wurde 1953 geboren und lebt heute als Autor und Dramatiker in Innsbruck.
Beitragsbild © Jacqueline Aerni-Sanfratello