Lieber Gallus,
unterdessen habe ich Albanien erreicht:
Nichts weiter als einen halbwegs ungenutzten Quadratmeter auf dem Bürgersteig hat sie nötig, und sie arbeitet ohne je zu murren, ohne jede Pause: die Waage. Auf den Bürgersteigen Shkodërs, die immer auch Verkaufsfläche, Parkplatz und geselliger Treffpunkt sind, finden sich unzählige mit Münzen dekorierte Waagen. In der Regel steht neben der Waage ein Stuhl, die Einrichtung insgesamt kommt aber ohne Personal, ohne Erklärungen aus.
Wer sich wägen lassen will, stellt seine Tasche, welcher damit die Unannehmlichkeit erspart bleibt, den womöglich schmutzigen Boden zu berühren, auf den Stuhl, legt eine Münze auf die Waage und stellt sich – neben oder auf das versammelte Kleingeld – auf die vorgesehene Fläche und lässt die Schwerkraft ihre leichte Arbeit verrichten.
Wer mit der vorerst unbestechlich bleibenden Angabe des Gewichts nicht zufrieden ist, kann sich sowohl sogleich wie auch im weiteren Verlauf des Tages gemäss den eigenen Bedürfnissen mit der Einbildung verbrüdern, welche besagt, dass all das auf der Waage liegende Kleingeld sicher richtig schwer sei.
Thierry / Urs
Urs Mannhart, 1975 geboren, lebt als Schriftsteller, Reporter und Biolandwirt in La Chaux-de-Fonds. Zuletzt erschien bei Secession „Gschwind oder Das mutmaßlich zweckfreie Zirpen der Grillen“ und bei Matthes und Seitz „Lentille. Aus dem Leben einer Kuh“.
Beitragsbild © Urs Mannhart