Herzliche Grüsse aus Shkodër, Albanien III

Lieber Gallus,

unterdessen habe ich Albanien erreicht:

Nichts weiter als einen halbwegs ungenutzten Quadratmeter auf dem Bürgersteig hat sie nötig, und sie arbeitet ohne je zu murren, ohne jede Pause: die Waage. Auf den Bürgersteigen Shkodërs, die immer auch Verkaufsfläche, Parkplatz und geselliger Treffpunkt sind, finden sich unzählige mit Münzen dekorierte Waagen. In der Regel steht neben der Waage ein Stuhl, die Einrichtung insgesamt kommt aber ohne Personal, ohne Erklärungen aus.

Wer sich wägen lassen will, stellt seine Tasche, welcher damit die Unannehmlichkeit erspart bleibt, den womöglich schmutzigen Boden zu berühren, auf den Stuhl, legt eine Münze auf die Waage und stellt sich – neben oder auf das versammelte Kleingeld – auf die vorgesehene Fläche und lässt die Schwerkraft ihre leichte Arbeit verrichten.

Wer mit der vorerst unbestechlich bleibenden Angabe des Gewichts nicht zufrieden ist, kann sich sowohl sogleich wie auch im weiteren Verlauf des Tages gemäss den eigenen Bedürfnissen mit der Einbildung verbrüdern, welche besagt, dass all das auf der Waage liegende Kleingeld sicher richtig schwer sei.

Thierry / Urs

Urs Mannhart, 1975 geboren, lebt als Schriftsteller, Reporter und Biolandwirt in La Chaux-de-Fonds. Zuletzt erschien bei Secession „Gschwind oder Das mutmaßlich zweckfreie Zirpen der Grillen“ und bei Matthes und Seitz „Lentille. Aus dem Leben einer Kuh“.

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Beitragsbild © Urs Mannhart

Herzliche Grüsse aus Bileća, Bosnien-Herzegowina II

Liegt hinter einem Wald ein Wald, der an einen Wald grenzt, welcher, aufgelockert durch eine silbern schimmernd unter einem unangestrengt bewölkten Himmel liegenden Karstebene, auf unnachahmliche Weise einen Wald umgibt – dann handelt es sich womöglich um den Süden Bosnien-Herzegowinas. In der frühmorgens noch tief schlafenden Kleinstadt Bileća sitzen zwei Dutzend Männer, die sich kennen und folglich nicht reden müssen, hinter ihren Tassen und im dichten Rauch ihrer Zigaretten, darauf wartend, dass sich Geträumtes verflüchtigt. Ich sitze an der Bar, hole mein Gemüsemesser hervor, schneide mit Sorgfalt einen Apfel in acht Stücke und nehme so, Schnitz um
Schnitz, mein Frühstück ein.
Einige verwunderte Blicke durchqueren den Nikotinnebel und berühren mich, aber ich denke, es ist hier alles sehr in Ordnung: Ich rauche bloss einen Apfel.

Herzlich grüsst Dich

Thierry

Herzliche Grüsse aus Mrkonjić Grad, Bosnien-Herzegowina

An einem friedvollen Waldrand habe ich übernachtet, am Saum eines sich selbst überlassenen Waldes in einem sich selbst überlassenen Tal – ein einladender Ort, um sich dem Schlaf zu überlassen. Zwar bereitet es Freude, verschwitzte Kleider über Nacht an einem Ast aufzuhängen, aber Insekten sind, nicht anders als menschliche Tiere, stets an Neuigkeiten interessiert, weswegen es mich wohl nicht sonderlich hätte überraschen sollen, als ich am Morgen, kurz nach dem Ankleiden, eine dunkle, rasch meine kurze Hose verlassende und auf mein Knie zusteuernde Schmetterlingsraupe habe beobachten können. Sie erinnerte mich an jene Zeile, die ich tags zuvor auf einer Speisekarte gelesen hatte: «Boiled knee with sidedish». Schön, dass meine Knie ungekocht sind. Aber wer kümmert sich darum, dass eine jede der prachtvoll blühenden Kastanien ihr Gedicht bekommt

Thierry