Urs Heinz Aerni: Einer Ihrer Romane lautet „Tanz der Vexiere“. Der Begriff Vexiere kann mit „plagen“ und „quälen“ übersetzt werden und sind heute als Geduldsspiele bekannt, bei denen entwirrt und wieder zusammengesetzt werden kann. Könnte das auch etwas mit Ihrer Art des Schreibens zu tun haben?
Alexander Günsberg: Der Roman erzählt, wie Spiegel Menschen verändern können. Ein Vexierspiegel verändert das Äussere. Im Inneren entstehen Vexiere, Abbilder des eigenen Ichs.
Aerni: Also eine Erweiterung der Bedeutung…
Günsberg: Der Begriff stammt von mir. Mit ‚plagen‘ oder ‚quälen‘ hat er nichts zu tun. Auch beim Schreiben plage ich mich nicht, sondern ringe um die besten Formulierungen, einen logischen Aufbau und eine packende Handlung. Das Schlimmste finde ich langweilige Bücher. Die Ideen, die meine Romane vermitteln, stehen zwischen den Zeilen einer Handlung, die so spannend ist, dass der Leser das Buch nicht aus der Hand legen kann, bis er am Ende angekommen ist. Das ist jedenfalls mein Ziel.
Aerni: Im besagten Roman ist der Schreinergeselle Alfred Kohnitz die tragende Figur mit einem Schicksal zwischen Einsamkeit und Sehnsucht und Suizidversuch und Abenteuerreise. Wie sind Sie auf diesen Alfred gestoßen?
Günsberg: Der Roman erzählt von einem Mann, der in Lebensangst und Minderwertigkeitskomplexen gefangen ist, sich durch das Erkennen seiner selbst zu einem neuen Menschen wandelt und eine Frau findet. Wunderschön ist der Moment, an dem sie auf einem kleinen Boot im Ozean auf die Wellen hinausblicken und im Glitzern der Sterne ihre Vexiere auf dem Wasser tanzen sehen. Deswegen habe ich den Roman ‚Tanz der Vexiere‘ genannt.
Aerni: Also kein verstecktes Spiel mit dem Namen des Protagonisten?
Günsberg: Nein, der Name Alfred Kohnitz ist unbedeutend. Ich hätte ihn genauso gut Heiri Hess nennen können. Namen sind nichts. Das was wir mit Ihnen verbinden, ist alles. Nehmen Sie zum Beispiel den Mädchennamen Chantal. Ich habe in meiner Jugend eine Chantal gekannt, die war die ärgste Ausgeburt des weiblichen Geschlechts, geifernd, rachsüchtig, dumm und eingebildet. Da war der Name Chantal für mich der hässlichste, den es gab.
Aerni: Starker Tobak
Günsberg: Später bin ich dann einer Chantal begegnet, die das herrlichste Geschöpf der Welt war und plötzlich bekam der Name die gegenteilige Bedeutung!
Aerni: Man kommt nicht umhin, bei der Lektüre auf den Verdacht zu kommen, dass Sie ein Freund der Harmonie und des guten Endes sein könnten. Ist dem so?
Günsberg: Nein. Das ist nur in diesem Roman so. Ich habe viele andere Geschichten geschrieben, die kein gutes Ende im landläufigen Sinn haben. Eine gute Geschichte muss auch eine sein, die sich in der Wirklichkeit so abgespielt haben kann, wie sie im Roman erzählt wird. Der „Tanz der Vexiere“ schildert die positive Entwicklung von Menschen durch das Erkennen ihrer Vexiere, vereinfacht gesagt vom Minus zum Plus. Deswegen muss diese Geschichte ein gutes Ende haben, wenn auch nicht für alle Personen, die in ihr vorkommen. Bei denen, die ihre Vexiere nicht erkennen, die nur in der Aussenwelt leben, ist das Ende gar nicht gut.
Aerni: Die beträchtliche Anzahl Ihrer Werke macht deutlich, wie intensiv das Schreiben Ihr Leben begleitet. Aber Sie frönen auch dem Schachspiel. Was war denn zuerst da?
Günsberg: Schach habe ich mit sechs von meinem Vater gelernt. Zu lesen habe ich mit drei begonnen. Zu schreiben, mehr als man in der Schule so dahinkritzelt, mit sieben oder acht. Als Kind habe ich Gedichte geschrieben. Meine Lehrerin in Wien nannte mich ironisch ‚unseren Dichter‘. Im Internat, in das ich mit zehn kam, musste ich als jüngster und schwächster im Sechser-Zimmer jeden Abend den anderen eine Geschichte erzählen. Falls nicht, drohten mir Schläge. Es war eine Zeit, in der es weder Fernsehen noch Internet gab. So blieb mir nichts anderes übrig, als zu erzählen und zu erzählen, jeden Abend. Irgendwann habe ich dann begonnen, die Geschichten aufzuschreiben, die ich erzählt habe.
Aerni: Hand auf’s Herz, wo sehen Sie sich selber talentierter, bei den Schachzügen oder beim Sätzemeisseln?
Günsberg: Ich hoffe sehr, beim Schreiben. Schach ist eine Leidenschaft, die man auf jedem Niveau betreiben kann. Schreiben aber sollte man nur, wenn man es so kann, wie ein Grossmeister Schach spielt. Anderes dem Leser vorzusetzen, halte ich für eine Zumutung.
Aerni: Sie sind Sohn jüdischer Holocaust-Überlebender, verbrachten die Jugend in Mailand, Wien und Zürich, sind fünfmal verheiratet und leben und schreiben heute im Wallis. Wer wird Ihr Leben aufzeichnen?
Günsberg: Der liebe Gott, wenn er sich überhaupt an alles erinnert.
Aerni: Sie schreiben Romane, Kurzgeschichten und auch Bücher für Kinder. Wie nehmen Sie den Puls des aktuellen gesellschaftlichen und politischen Zeitgeistes wahr? Was ärgert Sie gerade?
Günsberg: Vieles ärgert, vieles freut mich aber auch. Zu den Ärgernissen gehört der Hang der Menschen, rechts- oder linksextremen Parolen Glauben zu schenken, der zunehmende Antisemitismus, die Propaganda, die die Palästinenser als Opfer hinstellt, obwohl sie Israel vernichten wollen und nicht umgekehrt, die Übersozialisierung der Schweiz, die Eigeninitiative und Unternehmergeist bremst, unabdingbare Voraussetzungen für die Weiterentwicklung unseres Landes nicht nur auf wirtschaftlichem, sondern auch auf kulturellem Gebiet.
Aerni: Und das Gute?
Günsberg: Zu den erfreulichen Dingen gehören die ins Bewusstsein der Menschen gedrungene Erkenntnis, dass die Natur geschützt werden muss und die enormen Fortschritte der Medizin, die dem Leben auch noch in fortgeschrittenen Jahren einen jugendlichen Anstrich geben. Bei mir kommen natürlich meine junge Ehefrau und meine beiden letzten Kinder dazu, die 7 und 14 sind. Sie können keinen ‚alten‘ Papa gebrauchen!
Aerni: Beschreiben Sie uns Ihren Lieblingsschreibort?
Günsberg: Die Terrasse meiner Heime im Wallis und am Zürichsee und des Hotels am Meer in Italien, auf der ich vor rund vier Jahren nach jahrzehntelanger, berufsbedingter Abstinenz wieder zu schreiben begonnen habe. Manchmal nehme ich den Laptop aber auch an ganz Orte mit und schreibe, etwa auf der Bergstation einer Seilbahn oder im Schachclub, wenn ich meine Partie beendet habe und auf die anderen warten muss. Es gibt wenig Orte, die sich zum Schreiben nicht eignen. Nur zu laut darf es nicht sein und man sollte nicht dauernd gestört werden.
Aerni: Die Buchbranche leidet unter dem Druck der Digitalisierung und der Veränderung im allgemeinen Leseverhalten. Was hält Sie am Schreiben?
Günsberg: Leidenschaft, wie beim Schachspielen, nur dass ich es hoffentlich besser kann. Ich kümmere mich nicht ums Leseverhalten. Das ist etwas für Verleger und Soziologen. Ich konzentriere mich aufs Schreiben und will Geschichten produzieren, die nicht nur mir gefallen, sondern die Menschen wieder fürs Lesen begeistern. Nehmen Sie jeden anderen, auch viel profaneren Artikel. Wer kauft ein schlecht geschnittenes Kleid oder ein pannenanfälliges Auto? Warum also sollten die Menschen ausgerechnet ein schlecht geschriebenes Buch kaufen? Der Schriftsteller sollte sich nicht mit dem Leseverhalten beschäftigen, sondern sich darauf konzentrieren, gute Bücher zu schreiben. Die werden dann automatisch gelesen.
Aerni: Falls das Buch zum Lesenden findet…
Günsberg: Richtig, denn das Problem ist, sie bekanntzumachen, aber das ist eine andere Sache.
Aerni: Wenn ich ein Bild malen würde, mit einem lesenden Menschen mit Ihrem Buch in den Händen, wie müsste dieses aussehen?
Günsberg: Am liebsten hätte ich ein Bild, wie Brueghel sie gemalt hat, mit Szenen, in denen die Menschen spielen, lachen, singen, tanzen, arbeiten, sich lieben und eben auch Bücher lesen. Wenn eines von mir dabei ist, würde es mich und wahrscheinlich auch die Leser glücklich machen. Glück ist nicht nur Zufall oder Schicksal. Als Leseratte, wie ich Sie einschätze, kennen sie sicher auch das Glück, das einem eine liebende Frau, ein gutes Glas Wein mit Freunden oder ein spannender und gehaltvoller Roman bringen kann.
Aerni: Hätten Sie uns ein Beispiel?
Günsberg: Ich erinnere mich an meine Jugend, als ich in die Romane von C.S. Forester und Erich Maria Remarque versunken, ganze Nachmittage auf einer Parkbank gesessen bin und in einer anderen Welt war. Ist das nicht Glück, das man erlebt?
Alexander Günsberg wurde 1952 in Mailand als Sohn jüdischer Emigranten aus Wien und Ungarn geboren. Die Kindheit verbrachte er in Italien, Wien und Zürich. Neben und nach dem Studium der Geschichte, Psychologie und Germanistik und fünf Heiraten bereiste er die Welt und betätigte sich als Journalist, Skilehrer, Schachspieler, Autofahrlehrer, Gymnasiallehrer, Schmuckgrosshändler und Immobilienpromotor in den USA und in der Schweiz. 1974 erhielt er für die Erzählung «Aufstieg» den Literaturpreis des Kantons Baselland. Heute lebt er mit seiner Familie im Wallis und der erwähnte Roman „Tanz der Vexiere“ ist im Münster Verlag erschienen.