Claire Keegan «Reichlich spät», Steidl

Claire Keegans Romane sind Konzentrate, sprachlich wie inhaltlich. „Reichlich spät“ beschreibt das Psychogramm eines Mannes, der sich seiner dunklen Seiten nicht bewusst ist, der ganz und gar verklebt ist in der Sicherung seiner eigenen Bedürfnisse. Und Claire Keegan schreibt in einer Intensität, die trunken macht.

Das Buch ist nicht einmal 60 Seiten „dick“. Aber von schmalbrüstig kann keine Rede sein. Nicht dass die Autorin auf Beschreibungen und Stimmungsbilder verzichtet. Aber jeder Satz bebildert das Geschehen. Jede Wendung vervielfacht den Genuss des Lesens, auch wenn die Geschichte bisweilen weh tut.

Cathal lebt und arbeitet in Dublin. Sein Leben spielt sich in der Firma vor seinem Bildschirm, im Bus und seiner Wohnung ab. Nicht dass er einsam wäre. Es ist ein genügsames Leben, ein Leben aber, dass sich von den Dingen um ihn herum nur wenig beeindrucken lässt. Vielleicht ist Cathal ein Prototyp dessen, was Individualismus hervorgebracht hat; eine Sorte Mensch, die sich als absoluter Mittelpunkt des Sein empfindet, alles nach seinen Bedürfnissen misst, ganz auf sich selbst fokussiert ist. Ein Mann, dem Verachtung zum Lebensprogramm wurde. Ein Mann, der sich seine Welt zurechtgelegt hat.

Cathal lernt Sabine kennen, zufällig. Sie verabreden sich öfters. Man verbringt Wochenenden zusammen und immer häufiger Zeit in Cathals Wohnung, weil Sabine keine eigene Wohnung besitzt. Sabine kocht gut. Sie riecht gut. Und sie sieht leidlich gut aus. Für Cathal spricht nichts dagegen, aus dem Provisorischen etwas Festes werden zu lassen, jetzt oder nie. Auch wenn der Heiratsantrag nichts Romantisches an sich hatte und die Gründe dafür einfach bloss triftiger waren als jene dagegen, kaufen die beiden irgendwann Ringe und machen einen Termin aus, an dem die Hochzeit stattfinden soll.

Claire Keegan «Reichlich spät», Steidl, 2024, aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser, 64 Seiten, CHF ca. 21.90, ISBN 978-3-96999-325-5

Aber als Sabine mit ihrem Hausrat in Cathals Wohnung einzieht, wird ihm erst bewusst, dass jenes Leben, mit dem er sich schon Jahre bequem eingerichtet hatte, nicht ohne Einschränkungen weiterzuführen ist. So sehr sich die Dinge in Cathals Wohnung ausbreiten und Sabine sich einnistet, so sehr fühlt er sich in seinem wohl eingerichteten Gefüge bedroht. Und als er sich dann auch noch in Sabines Kaufverhalten, in die Art ihres Haushaltens einmischt und Sabine ihm mehr als deutlich macht, dass sie nicht bereit ist, in der Beziehung die Rolle der Dienenden zu spielen, eskalieren die Auseinandersetzungen. Cathal weiss nicht, wie ihm geschieht.

Auf dem Cover des Buches steht: „In dieser kleinen Geschichte eines gescheiterten Paares erzählt Claire Keegan vom grossen Thema Misogynie (Frauenfeindlichkeit).“ Vielleicht geht es in diesem Buch aber ganz einfach um menschliche Degenerationen, dass Menschen mehr und mehr ihre eigenen Bedürfnisse und Ansichten zum obersten Gesetz erklären, an das sich alles und jeder zu richten hat. Cathal hat schon in seiner eigenen Familie gelernt, dass seine Mutter zu dienen hat, dass eine Frau kein ebenbürtiges Gegenüber ist, dass man sich auch getrost mit Vorsatz und hämischem Lachen über Frauen setzen kann. Frauenfeindlichkeit ist kein Phänomen der Moderne, aber in Zeiten, in denen wie in keiner Epoche zuvor Gleichberechtigung zur erklärten Selbstverständlichkeit hätte werden sollen, schlichter Hohn.

„Reichlich spät“ als Titel bezieht sich nicht nur auf Cathals Augenreiben, als er feststellen muss, dass Sabine die Reissleine gezogen hat. „Reichlich spät“ beschreibt auch den Zustand einer Gesellschaft, die es nicht schafft, sich von Mechanismen zu befreien, die sich über Jahrhunderte in den männlichen Genen festgesetzt zu haben scheinen.

Claire Keegan schreibt sich mitten in den Nerv. In ihrer unspektakulären Erzählart, den feinen Beobachtungen menschlichen Versagens blendet sie mit Spiegeln, die unweigerlich zur Selbstreflexion zwingen.

Claire Keegan, geboren 1968, wuchs auf einer Farm in der irischen Grafschaft Wicklow auf. Sie hat in New Orleans, Cardiff und Dublin studiert. Im Steidl Verlag sind von der vielfach ausgezeichneten Autorin bereits die Erzählungsbände «Wo das Wasser am tiefsten ist» (2004) und «Durch die blauen Felder» (2008) (in einem Band: «Liebe im hohen Gras», 2017), «Das dritte Licht» (2013/2022) und «Kleine Dinge wie diese» (2022) erschienen. «Das dritte Licht» wurde mit dem renommierten Davy Byrnes Award ausgezeichnet und gehört für die englische Times zu den 50 wichtigsten Romanen des 21. Jahrhunderts. Claire Keegan lebt in Irland.

Hans-Christian Oeser, geboren 1950 in Wiesbaden, ist literarischer Übersetzer, Herausgeber, Reisebuchautor, Publizist, Redakteur und Sprecher. Er hat zahlreiche Klassiker ins Deutsche übertragen, darunter Mark Twains Autobiographie. Zahlreiche Auszeichnungen, u. a. Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Preis, Helmut-M.-Braem-Übersetzerpreis und Straelener Übersetzerpreis.

Beitragsbild © Murdo McLeod

Claire Keegan «Kleine Dinge wie diese», Steidl

Aus der Irischen Proklamation von 1916: „… Die Republik garantiert allen ihren Bürgern religiöse und bürgerliche Freiheit, gleiche Rechte und gleiche Chancen und erklärt ihre Entschlossenheit, nach Glück und Wohlstand der ganzen Nation und aller ihrer Teile zu streben, indem sie alle Kinder der Nation gleichermassen wertschätzt.“ Ob 1916 oder 1984 – i wo!

Ein kleiner Ort in Irland. Winter, Weihnachten 1984. Furlong, Eileen und ihre fünf Mädchen machen sich an die Vorbereitungen zum Weihnachtsfest. Furlong spürt Unruhe in sich. Diese Unruhe wird zu einem Beben, als er bei einer Kohlelieferung zum nahen Nonnenkloster ein verschrecktes Mädchen, eingesperrt im klösterlichen Kohlekeller, findet. Und schlussendlich nimmt er ein Mädchen ohne Schuhe, in Lumpen gekleidet, mit Haaren, als wären sie blind geschnitten worden mit nach Hause, in die Wärme seiner Familie. Eine Weihnachtsgeschichte?

Ein kleiner Ort in Irland. Ganze Schwärme von Raben machen sich über alles Fressbare in dem kleinen Dorf her, besetzen Dachgiebel, machen aus kahlen Bäumen schwarze, krächzende Gebilde. Furlong sieht eines Tages bei einem seiner Spaziergänge durch sein Dorf, das seine Welt ist, eine Katze über dem Kadaver eines Raben. Dreht sich die Welt? Werden die schwarzen Schwärme, die den Ort in den Weihnachtsvorbereitungen regelrecht heimsuchen, mit einem Mal zum „Opfer“? Eine Umkehrung? Doch nicht eine Weihnachtsgeschichte?

Claire Keegan «Kleine Dinge wie diese», Steidl, übersetzt von Hans-Christian Oeser, 112 Seiten, CHF 28.90, ISBN 978-3-96999-065-0

Ein kleiner Ort in Irland. Nicht weit vom Ort steht seit Urzeiten ein Nonnenkloster mit Wäscherei. Alle im Ort, die es sich leisten können, bringen ihre Wäsche ins Kloster, denn zum Kloster gehört ein Magdalenenheim, wie es damals viele in Irland gab und das letzte erst Jahre nach den Geschehnissen dieser Geschichte schliessen würde. Ein Heim für „gefallene“ Mädchen. Mädchen, denen man sich in der konservativen, katholischen Gesellschaft entledigen (was für ein Wort!) wollte. Was von aussen aussehen sollte, als wäre es Zeichen christlicher Mildtätigkeit, institutionalisierter Fürsorge, war in Wirklichkeit ein perfides System grausamer Peinigung, Zwangsarbeit und Humanentsorgung. Zehntausende junge Frauen wurden bis zur totalen Erschöpfung in konzentrationslagerähnlichen Zuständen wie Tiere gehalten und zur Arbeit gezwungen. Und die Kinder dieser Mädchen wurden zu Hunderten hinter den hohen Mauern dieser Klöster in Massengräbern verscharrt. Alles unter dem Schutzmantel der Kirche, erst in der Gegenwart in seiner fatalen Tragweite realisiert, immer noch ein irisches Trauma. In einem Land, das in seinen Traumata wohl noch lange nicht zur Ruhe kommen wird.

Claire Keegan erzählt genau dort, an der Schnittstelle dieser Geschehnisse. Sie erzählt die Geschichte eines Mannes, der seinen Vater nie kennenlernte, dessen Mutter, in ihrer Schwangerschaft allein gelassen, das Glück hatte, eine wohlgesinnte Arbeitgeberin zu haben, ihre Stelle als Haushälterin nicht verlor und den kleinen Furlong im Haus ihrer Arbeitgeberin aufziehen konnte. Furlong, zeitlebens Aussenseiter, findet Eileen, geniesst sein kleines Glück als Vater von fünf gesunden Töchtern. Die einen gehen sogar in die Musikschule des nahen Nonnenklosters! Aber Furlong weiss und spürt, wie brüchig dieses Glück ist. Und jetzt, in den Vorbereitungen zu Weihnachten, die Töchter schreiben Briefe an Santa Claus und man backt Kuchen, ahnt Furlong, dass hinter den Klostermauern nicht die Liebe regiert und es Leben gibt, die vom Glück verlassen sind. Selbst Eileen und er reagieren ganz unterschiedlich auf die Bedrohungen des Glücks. Bis Furlong die Zeichen nicht mehr leugnen kann und er sich gezwungen sieht, ein Zeichen zu setzen. Bis er eines der blossfüssigen Mädchen an der Hand nimmt und es in seinen Mantel gehüllt durch sein Dorf nach Hause zieht, während man auf den Strassen raunt oder die Strassenseite wechselt.

Claire Keegan stellt sich einem Trauma ihres Landes. Vordergründig erzählt sie eine zärtliche Geschichte von einem feinsinnigen Mann, der nicht mehr wegschauen kann. Hintergründig erzählt sie von diesen schwarzen Gestalten, die in Schwärmen ihren unbegrenzten Hunger stillen, die sich hinter Mauern verstecken und sich über Jahrhunderte in Mechanismen hineinmanövrierten, aus die sie nur die Umkehrung zwingen kann.

Claire Keegan erzählt so feinsinnig und zart, wie Furlong seiner Welt begegnet. Seine Art Licht ins Dunkel zu bringen, ist seinem Wesen geschuldet. Er tut es in Liebe. Claire Keegan hätte die alten Mauern des Schweigens auch mit Knall und Rauch niederreissen können, effektheischend und mit aller Macht anklagend. Tat sie aber nicht, weil die Autorin weiss, dass die Wirkung mit ihrer Art des Erzählens viel subtiler ist.

Es dauerte bis 2013, bis sich die Irische Regierung öffentlich entschuldigte!

Claire Keegan, geboren 1968, wuchs auf einer Farm in der irischen Grafschaft Wicklow auf. Sie hat in New Orleans, Cardiff und Dublin studiert. Bei Steidl sind von der vielfach ausgezeichneten Autorin bereits die Erzählungsbände
«Wo das Wasser am tiefsten ist» und «Durch die blauen Felder» (in einem Band: «Liebe im hohen Gras», 2022) erschienen. Ihre Erzählung «Kleine Dinge wie diese» (2022) stand auf der Shortlist des Booker Prize.

Hans-Christian Oeser, geboren 1950 in Wiesbaden, ist literarischer Übersetzer, Herausgeber, Reisebuchautor, Publizist, Redakteur und Sprecher. Er hat zahlreiche Klassiker ins Deutsche übertragen, darunter Mark Twains Autobiographie. Zahlreiche Auszeichnungen, u. a. Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Preis, Helmut-M.-Braem-Übersetzerpreis und Straelener Übersetzerpreis.

Beitragsbild © Murdo McLeod