Oktober 1944, irgendwo in Niederösterreich auf einem Bauernhof. Die Wellen des Krieges bewegen sich unaufhaltsam ihrem schrecklichen Ende zu. In den Augen mancher die Ruhe vor dem endgültigen Gegenschlag zum Endsieg. Wellen, die die Bauernfamilie nur insofern kümmern, dass Leo, der einzige Sohn, seit Monaten kein Lebenszeichen mehr von der Front gibt.
Bis ein Mädchen auf dem Hof erscheint, verwirrt und verstört, Nelli. Die Dreizehnjährige soll auf dem Hof in Pflege genommen werden. Was auf dem Hof in den letzten Kapiteln des Krieges passiert, davon erzählt Nelli, die nicht weiss, ob sie wirklich so heisst. Sie erzählt, wie die Dramatik des zu Ende gehenden Krieges über den Hof hineinbricht. Ein Gefüge, dass sich nicht um Politik, Rassenfrage, Feigheit vor dem Feind oder Entartung kümmerte. Das Mädchen bekommt von Lorenz, dem Bruder des Bauern, einem «spinnerten Bauernknecht», der sich mehr für Bücher als für die Scholle und das Wetter interessiert, ein braunes Heft. Das Mädchen macht für jeden Tag einen Strich ins Heft und schreibt dort ihre Wahrheit, ihre Gegenwart, denn von ihrer Vergangenheit ist ihr nichts geblieben. Und weil der alte Lorenz sie immer mehr ins Vertrauen zieht und ihr jene drei Dinge zeigt, von denen Lorenz wissen muss, dass sie nicht verloren gehen, nennt Nelli ihn «Grossvater».
Dann, als schon einhundertsechsundvierzig Striche im Heft stehen, taucht auf dem Hof Michail auf, ein russischer Kriegsgefangener, der über Jahre Zwangsarbeiter war und in den Wirren des Endkampfes ausgehungert und müde auf dem Hof strandet, nichts bei sich, ausser einer eingerollten Leinwand, die er wie seinen Augapfel hütet, einem eingerollten Etwas, das sein Geheimnis bleiben soll. Michail ist eine willkommene Arbeitskraft auf dem Hof, auch wenn ihm niemand, ausser das Mädchen Nelli traut.
Um die Dramatik des Geschehens auf die Spitze zu treiben erscheinen am Tag vor Karfreitag drei Wehrmachtssoldaten auf dem Hof, von ihrer Truppe abgetrennt, quartieren sich in die Betten der Familie und verlangen von den katholischen Bauersleuten ausgerechnet am Karfreitag, ein Schwein aus ihrem Stall zu schlachten. Man wolle Braten und Knödel, und zwar gleich. Und als die Soldaten Michail den Prozess zu machen beginnen, schlägt der Krieg auch auf dem Hof ein.
Was Paulus Hochgatterer, den ich bislang nur von seinem hochgelobten Krimi «Die Süsse des Lebens» kannte, in einer eindrücklichen konstruieren Erzählung aufbaut, ist grosse Bühne im Kleinen. In eine Bauernfamilie mit lauter Mädchen im latenten Schmerz eines vermissten Bruders bricht der Krieg ein; ein Russe, ein in Feindesland Geflohener, ein malender Fatalist – und zwei müde Soldaten mit einem Leutnant, der selbst nach Ostern 1945 noch immer an den Endsieg glaubt, glauben muss. Und ein stilles, beobachtendes Mädchen, das durch den Krieg und seinen Schrecken die Vergangenheit und mit ihr ihre Familie verlor. Unspektakulär und mit virtuoser Eindringlichkeit zeichnet Paulus Hochgatterer den Krieg im Kleinen, aus der Sicht eines Mädchens, das die Welt zu verstehen versucht. Dass Paulus Hochgatterer Kinderpsychologe ist, erklärt das Wissen um die Innenwelten verletzter Kinder, sein Talent aber ist die Tiefe dieser Perspektive. Paulus Hochgatterer erzählt ohne Erklärung, ohne Deutung, gibt der Szenerie etwas Naives, ohne ihr den Ernst und die Dramatik zu nehmen. Auch wenn es bloss 110 Seiten Lesevergnügen sind, steckt in der Erzählung «Der Tag, an dem mein Grossvater ein Held war» alles, was das Leben zu finaler Dramatik peitscht.
Paulus Hochgatterer, geboren 1961 in Amstetten/Niederösterreich, lebt als Schriftsteller und Kinderpsychiater in Wien. Er erhielt diverse Preise und Auszeichnungen, zuletzt den Österreichischen Kunstpreis 2010. Bei Deuticke erschienen bisher: «Über die Chirurgie» (Roman, 1993, Neuauflage 2005), «Die Nystensche Regel» (Erzählungen, 1995), «Wildwasser» (Erzählung, 1997), «Caretta caretta» (Roman, 1999), «Über Raben» (Roman, 2002), «Eine kurze Geschichte vom Fliegenfischen» (Erzählung, 2003), «Die Süße des Lebens» (Roman, 2006), «Das Matratzenhaus» (Roman, 2010) und «Katzen, Körper, Krieg der Knöpfe. Eine Poetik der Kindheit» (2012).