Paul Maar «Lorna», S. Fischer

„Lorna“ ist eine berührende Novelle über eine junge Frau, die ihr Leben an die Wand fährt, die Unfähigkeit einer Gesellschaft, auf die Krankheit dieser jungen Frau zu reagieren und eine erste Liebe, die daran erstickt. Paul Maar hat ein zartes Buch geschrieben, dessen Tiefe einem während der Lektüre mehr und mehr in die Knochen fährt.

Generationen kennen den Schriftsteller Paul Maar wegen seiner „Sams“-Bücher. Eine Kinderbuchreihe über ein eigenwilliges Wesen mit Rüsselnase, blauen Wunschpunkten im Gesicht und wild abstehenden, borstenähnlichen Haaren. Geschichten, aus denen Theaterstücke und Spielfilme entstanden, die im Kino zu Erfolgen wurden. Ein Kinderbuchklassiker, der in jede Kinderbibliothek gehört.

Dass Paul Maar aber auch in ganz anderer Tonalität erzählen kann, beweist er mit seinen Romanen für Erwachsene – ganz eindrücklich mit seiner Novelle „Lorna“.
Ganz offensichtlich hat Paul Maar den Stoff lange mit sich herumgetragen. Auch wenn es scheint, als würde der Autor eine Geschichte aus seiner Jugend erzählen, in der Biographie der Protagonisten gibt es einige Parallelen zum Leben des Schriftstellers, spiegelt Paul Maar die Geschichte seiner Schwester, die an einer bipolaren Störung litt, wegen mehrer Bandstiftungen in der Klinik landete. Erfahrungen, die den jungen Bruder damals ratlos machten und verunsicherten. Erfahrungen, die nach einer literarischen Verarbeitung riefen und dem Buch eine Feinheit geben, eine Tiefe, die als reine Fiktion wohl niemals so „funktioniert“ hätte.

Paul Maar «Lorna», S. Fischer, 2025, 112 Seiten, CHF ca. 32.90, ISBN 978-3-10-397700-4

Lorna und Markus, der junge Erzähler, wachsen im gleichen Quartier auf. Fast alle in der Clique um Lorna waren in das Mädchen verliebt. Vielleicht wegen ihrer roten Haare, vielleicht wegen ihrer grünen Augen, aber vielleicht auch deshalb, weil sich Lorna so ganz anders gebärdete wie die anderen Mädchen aus der Siedlung. Lorna und er wohnen im gleichen Mehrfamilienhaus, auf der selben Etage, beides Familien ohne Väter. Lornas Haarfarbe wohl ein Teil ihres Vaters, einem britischen Soldaten, der sich vor der Geburt aus dem Staub gemacht hatte. Markus verliebt sich schleichend in das Mädchen, über die Jahre immer mehr, weil Lorna zu einem Fixstern in seinem Leben wird, auch wenn dieser Fixstern keine feste Umlaufbahn zu haben scheint, und Lornas Erwiderungen von voller Zuwendung bis totaler Abweisung eiern.

Erst recht, als sich die beiden selbstständig zu machen versuchen, zusammen mit einer Freundin eine WG gründen. Markus studiert, wie der Autor in seiner Jugend auch, an der Kunstakademie, Lorna Psychologie und Sozialpädagogik. Lorna und Markus werden immer mehr zu Gegenpolen. Während Lornas Leben unstet von Mann zu Mann, von Zustand zu Zustand pendelt, versucht Markus alles, um indirekt auch seiner Freundin eine Richtung zu geben. Markus nennt Lornas Zustände „Manie“, schon deshalb, weil ihm niemand helfen kann, die Kapriolen seiner Freundin einzuordnen. Erst recht, als man Lorna nach einem ersten Versuch, in der WG ein Feuer zu legen, in die Geschlossene einliefert und Markus bei seinen Besuchen feststellen muss, dass die sedierte Lorna nur noch ein Schatten ihrer selbst geworden ist. Sie war wirklich nicht mehr die Lorna, in die ich mich verliebt hatte. Mir schien es, als hätte sie ihr Gehirn umgestülpt und damit einer anderen Persönlichkeit Zutritt zu ihrem Körper verschafft. Ein Zustand, der in Zeiten, in denen sie auf verschiedste Weisen aus der Klinik freikommt, mit Euphorie und maximaler Zuwendung kippt. Bis die absehbare Katastrophe eintritt.

Was zu Beginn der Novelle wie eine leichte Sommer-Liebesgeschichte beginnt, wird im Laufe der Lektüre immer mehr zu einer Erzählung, in der permanter Schmerz und unlösbare Verzweiflung mitschwingen. Da ist nicht nur Schmerz und Verzweiflung in einer jungen Liebe, sondern mehr und mehr jene im Zustand der absoluten Hilflosigkeit. Schon der rudimentäre Versuch, mit dem Begriff „Manie“ Lornas Zuständen einen Namen zu geben! Da ist auch der Schmerz darüber, dass weder er noch die Medizin der jungen Frau helfen können, dass man sie von der Polizei abholen lassen muss und mit Medikamenten ruhigstellt. Dass man all die Brandstiftungen nicht zu lesen weiss.

Paul Maar hat sich mir tief in die Seele geschrieben.

Paul Maar ist einer der beliebtesten und erfolgreichsten deutschsprachigen Kinder- und Jugendbuchautoren. Geboren 1937 in Schweinfurt, arbeitete er nach einem Studium der Malerei und Kunstgeschichte zunächst als Lehrer an einem Gymnasium, bevor er sich als freier Autor und Illustrator ganz auf seine künstlerische Arbeit konzentrierte. Nach rund vierzig Büchern und Theaterstücken für junge Leserinnen und Leser erschienen bei S. Fischer seine «Erwachsenenbücher» «Wie alles kam. Roman meiner Kindheit» und «Ein Hund mit Flügeln». Maars Werk wurde vielfach gewürdigt, unter anderem mit dem E. T. A.-Hoffmann-Preis und dem Friedrich-Rückert-Preis. Etliche Schulen tragen seinen Namen.

Beitragsbild © Dirk Skiba