Hans Gysi «Paul geht fort» (Auszug), Plattform Gegenzauber

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Paul war in einem Alter, wo die Schönheit keine so grosse Rolle mehr spielte und die Erfahrungen einen langsam dahin brachten, die noch verbleibende Zeit zu geniessen oder mindestens ohne grossen Druck zu verbringen. Was wollte man noch erreichen? Welche Stadt noch besuchen? Welche Pläne noch zur Ausführung bringen? So ungefähr lauteten die Fragen, die Paul an sich selbst richtete. Dennoch beschäftigte ihn sein Alter so sehr, dass er, wenn er nachts erwachte, manchmal die Jahre nachrechnete und es nicht recht fassen konnte, dass er nun schon an der Schwelle seines letzten Lebensabschnitts stand. Um besser zu begreifen, was die Zahlen bedeuteten, machte er es sich zur Gewohnheit, die Jahre in seiner Vorstellung wie eine Landschaft aus Kurven und Hyperbeln neben sich auf der Fläche seines Bettes auszulegen und sie gewissermassen von der Seite zu betrachten. Vielleicht war seine Seele irgendwo dort im Gelände unterwegs. Er stellte sich vor, dass die Episoden sei- nes Lebens kleine Täler bildeten, Mulden und Diagramme, die eine fremde und schöne Landschaft beschrieben, welche er einst bewohnt haben mochte. Dadurch gewann sein Leben etwas Fassbares und zugleich etwas Künstliches, sodass er bald nicht mehr wusste, ob er in seinen eigenen Erinnerungen kramte oder in einem fremden Buche las.

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Paul hatte Kathrin. Kathrin hatte Paul. Sie war freundlich und klug. Und sie hatte noch viele andere Qualitäten, von denen Paul kaum sprach. Sie war etwas bekümmert wegen Pauls Gesundheit. Paul war ihr nicht gleichgültig, das spürte er immer häufiger. Manchmal lachte sie ansteckend und hell. Dann wieder war sie ganz still in sich gekehrt. Die Gefühle bestimmten ihre Befindlichkeit. Auch Paul war ein Gefühls- mensch, gelegentlich ganz nah am Wasser gebaut. Er passierte ihm, dass er weinend im dunklen Kino sass, sich seiner Tränen leicht schämend. So fuhren ihre Gefühle Achterbahn: sie an der steilsten Stelle und er in gemächlicher Ebene oder umgekehrt. Mit den Gefühlen kam die Ungleichzeitigkeit, und sie wurde ein ständiger Begleiter. Kathrin hatte den Eindruck, dass Paul sich zu viel auflud. »Und man weiss«, sagte sie, »dass dieses Alter gefährlich ist: Die Kräfte lassen nach und die Anforderungen steigen!« Paul versuchte, eins nach dem andern anzupacken, vorsätzlich ruhig und nüchtern, doch im Grunde wusste er, dass sie recht hatte. Er konnte sich ein Leben ohne Kathrin nicht vorstellen. In den langen Jahren war sie zu einem Teil von Pauls Da- sein geworden, körperhaft. Ob sie sich nach einer eventuellen Wiedergeburt nochmals zusammentäten, darüber hatte sich Paul keine Gedanken gemacht. Er glaubte nicht an die Wiedergeburt in diesem Sinne. Kathrin hatte viele Vorzüge, das wusste Paul. Zum Beispiel konnte man ihr kaum etwas vormachen, ausser man überraschte sie wie ein lahmer Zauberer mit einer vergessenen Taube aus dem Zylinder. Dass sie vergesslich war, schätzte Paul besonders. Er hatte es nötig.

3

Bevor Paul zur Arbeit ging, prüfte er mit einem schnellen Blick seine Silhouette im Spiegel und dachte an manch eine seiner Gesten, die eine ungeschickte bis fahrige Form annahmen. Manchmal fluchte er leise über ein Missgeschick oder einen Fehlgriff. Da fiel ihm ein Behälter aus der Hand und zu Boden, dort trat sein Fuss nicht mehr sicher auf, was ihn leicht schwanken liess. Das Schwanken konnte er mit et- was Glück in ein sportliches Wippen verwandeln. Vielleicht, dachte er bei sich, war der kritische Punkt überschritten, wo mit täglichem Training und grosser Disziplin etwas auszurichten war. Absurd. Paul war noch nicht so weit, wusste aber, dass man die eigene Unfähigkeit verdrängte und über grösser werdende Defizite hinwegsah, solange man sie kompensieren oder mit Aktivitäten überdecken konnte. Wie ein Feldforscher, der sich für seltene Käfer interessiert und sie auf Nadeln aufspiesst, so fühlte sich Paul, wenn er an sich selbst Ticks und Gewohnheiten beobachtete: Das waren ähnliche Nadelstiche, die ihn unbeweglich zu machen drohten. Häufiger erinnerte ihn sein fahriges Grinsen, eine schiefe Kaubewegung oder ein Kratzen am Kopf und eine selbstvergessene, unbewegte Miene an Bildeinstellungen, die er von seinen älter werdenden Eltern gespeichert hatte. Es graute ihn vor einem Alter, wo ihm Nasenpopel am Hemd kleben würden oder Sabber aus dem Mund rinnen in Selbstvergessenheit und aus Unachtsamkeit. Seine eigene Schusseligkeit nahm zu, da half nichts. Vielleicht sollte er einen Hut tragen, dachte Paul etwas hilflos.

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Paul hatte Arbeit, er war Lehrer. Zu einem Satz von vierzig Prozent war er eingestellt. Daneben arbeitete er frei fürs Theater. Als Teilzeitlehrer hatte er grosse Träume, weil er viel Zeit mit ihnen verbringen konnte. Er liebte es, in der Stunde Schiefertafeln vollzuschreiben. Wichtige Eckdaten und Zahlen konnte man darauf wieder finden. Paul dachte: Der Unterrichtende hat ein Gedächtnis, aus dem zieht er das Nötigste ans Trockene, wie ein Fischer die Netze einholt. Was beim Fischer die Netze, sind bei ihm die Kreidestifte und der grüngraue Belag der Wandtafeln. Die Tafeln kann er aufklappen, aber er hat kein Recht, alle Tafeln zu füllen, auch das Stehenlassen von Textpartien ist nur in Ausnahmefällen erlaubt. Denn ein Teilzeitlehrer ist Gast in den bereitgestellten Zimmern. Was Paul schrieb, verbündete sich am Schluss der Stunde mit dem Wasser des Tafelschwamms und rann davon. Die Quintessenz seiner Lektionen versammelte sich im Schwamm und am untern Rand der Tafel in trüben Pfützen. Das war das Sichtbare des Bleibenden und gleichzeitig ein schönes Bild für die Vergeblichkeit, das Verschwinden der Erkenntnis. In leichter Melancholie betrachtete er das weisslich-graue Wasser und dachte: Die Schule ist eine Attrappe, die sich in der Weltgeschichte verliert.

Hans Gysi «Paul geht fort», edition 8, 2022,
128 Seiten, CHF 21.00,
ISBN 978-3-85990-454-5

Der Protagonist dieser melancholisch-witzigen Prosaminiaturen ist ein Mensch mit ambivalentem Innenleben, das vielen bekannt vorkommen könnte. Paul ist Lehrer, unterrichtet routiniert seine Klassen und ist in einem Alter, «wo die Schönheit keine so grosse Rolle mehr spielt». Er beobachtet gerne Menschen, die ›Comédie humaine‹ regt ihn zu Betrachtungen an, er schreibt Bücher und hat auch etwas Erfolg damit. Kurz: Er scheint im Leben angekommen zu sein, hat sich eingerichtet.
Da ist aber auch ein Zaudern, ein Zweifeln, eine innere Unruhe, die ihn den Boden unter den Füssen verlieren lässt. Gefangen im «Dickicht der Pflichten», «festgezurrt von Vorbild und Gewohnheit», sucht Paul nach Auswegen aus seinem Alltag, misst sich an seinen Träumen – und bricht auf.
Hans Gysis Texte bestechen durch den nachdenklichen Grundton mit stets präsentem Humor, die fein gezeichneten Beobachtungen und die überraschenden Wendungen, die in einem Finale voll tiefsinnigem Nonsens gipfeln.

Hans Gysi ist 1953 in Arosa geboren und aufgewachsen. Schulen und Ausbildung hat er in Arosa, Schiers gemacht und studiert an der Uni Zürich gemacht. 1976 Sek.-Lehrer Phil I. Von 1982-85 Schauspielakademie Zürich. Seit 1985 zwei Jahre als Schauspieler tätig beim Kitz und später freischaffend als Schauspieler, Regisseur, Theaterpädagoge und Autor mit verschiedenen Theatergruppen Viele Inszenierungen vom Frühlingserwachen bis zur Kleinbürgerhochzeit, u.a. auch mit Andreas Schertenleib «Ich habe eine grosse Sache im Grind», ein Glauserabend. Hat den Förderpreis des Kantons Thurgau erhalten, einen Werkpreis der PRO HELVETIA und einen Förderpreis des Kuratoriums Aargau. Den Rilkepreiserhielt er für das Buch «pocket songs» im Verlag edition 8. Weitere Lyrikbände bei edition 8: «Zettel und Litaneien», «Ein Tag mit Chili Geschmack», lebt in Kreuzlingen Thurgau.