Wolfgang wird von der Polizei in die geschlossenene Jugendpsychiatrie gebracht. Seine kleine Schwester Leonie muss zu den Grosseltern und von der Mutter ist kaum mehr die Rede. Nicht erst die Katastrophe hat die Familie zerrissen und ein Trümmerfeld hinterlassen. Was mit einem lauten Knall ein Ende mit Schrecken fand, die dünne Fassade einer Familie pulverisierte, zerstörte das Letzte, was von dem geblieben war, was ein gnadenloser Vater über Jahre durch Herzlosigkeit und Willkür in seinen Grundfesten vernichtete.
Michèle Minelli, die mit «Passiert es heute? Passiert es jetzt?» ihren ersten Jugendroman schrieb, hat sich mit ihrem Roman keine leichte Aufgabe gestellt. Eine Aufgabe, bei der es viele Möglichkeiten des Scheiterns gäbe, die nur dann funktioren kann, wenn der Grad an Nähe und Distanz sowohl zu den Protagonisten wie zur Katastrophe nicht in Trvialität kippt. Nicht nur die Themen, mit denen sie konfrontiert, sondern auch die Perspektiven des Erzählens, die Art (Kunst), wie sie sich mitten ins Geschehen setzt, sind explosiv.
Eine Geschichte, die unter die Haut geht, weil sie die Schrecken einer in sich eingeschlossenen Familie genauso spiegelt wie die Unmöglichkeit, eine sich anbahnende Katastrophe in diesem eingeschlossenen Kosmos vorauszusehen oder sie gar abzuwenden. So sehr die Familie als «Keimzelle der Gesellschaft» bezeichnet wird, so sehr schliessen sich Konflikte in ihr ein. Kinder werden zu Gefangenen, zu Eingesperrten, Eingeschlossenen, hilflos der «elterlichen Gewalt» ausgesetzt.
Wolfgang ist sechzehn. Nicht einmal sein Geburtstag ist Grund zur Hoffnung oder Freude. Wolfgang hat längst resigniert, den väterlichen Terror zur Selbstverständlichkeit erklärt. So sehr er die blauen Flecken seiner Mutter, ihr stundenlanges Beten im Bügelzimmer, seine permanete Angst und Verunsicherung, seinen blinden Gang auf dem Minenfeld hinnehmen muss, so sehr wird er zum Beschützer seiner kleinen Schwester Leonie, deren Auflehnung gegen ihren Vater irgendwann in der Katastrophe enden muss.
Wolfgang nennt seinen Vater im Stillen «Möchtegernvater». Einer der sich zum Vater erklärt, einer, der seine Position erkaufen, erzwingen und zurechtschlagen muss. Sein Vater nennt ihn ganz offen «Jammerlappen» oder «Murks», weil er nichts zustande bringe, nichts tauge. Ein Vater, dem die Liebe längst abhanden kam, wo man nicht einmal den Fotos aus der Vergangenheit traut, der die Liebe durch Drill, bodenlose Strenge, Verachtung und Gewalt ersetzte, dessen Unberechenbarkeit alles Vertrauen längst zerstörte.
Bis an einem Donnerstag das eskaliert, was längst zu einem unaufhaltsamen, zerstörerischen Höllensturz wurde. Wolfgang reisst für einen kurzen Augenblick die Macht an sich, um die zerstörerische Dynamik von seiner Schwester und seiner Mutter weg auf ihn selbst, seinen Vater zu richten.
Mit einem Mal sitzt Wolfgang an einem Ort, wo Türen und Fenster geschlossen sing, die Böden beim Gehen fiepsen und die Erwachsenen Fragen ohne Fallen stellen. An einem Ort, wo nicht nur er mit einem schrecklichen Geheimnis, das mit einem Knall durch ihn hindurch gegangen war und nicht hängen blieb, sondern auch andere Jugendliche auf Antworten warten, die sie sich ohne Hilfe nicht geben können, die sich in der Vergangenheit verbergen.
Michèle Minelli sticht mitten hinein. Sie schrieb eine Geschichte, die ihr zu Herzen ging, die erzählt werden musste. Beispielhaft für all die Familientyranneien, die nie nach aussen gelangen. Kein Protokoll, kein Bericht. Michèle Minelli setzt sich als Erzählerin unter die Haut eines Sechzehnjährigen, ganz nah, unmittelbar. Sie schildert, was in den Tagen nach der Katastrophe passiert und nicht passiert, was mit einem Jungen geschieht, der nicht realisieren kann, was Not und Affekt mit ihm machten. Die Geschichte geht unter die Haut und wird es überall dort tun, wo man ihr in ihrer Dringlichkeit Zutritt gewährt. Ein Buch, das abverlangt und stehen lässt.
Michèle Minelli wurde 1968 in Zürich geboren und arbeitete zuerst als Filmschaffende, später als freie Schriftstellerin. Sie schreibt Romane, Sachbücher und probiert gerne verschiedene Textformen aus. Mit vierzig absolvierte sie das Eidgenössische Diplom als Ausbildungsleiterin und unterrichtet seither regelmäßig „Kreatives Schreiben“ und andere Themen in literarischen Lehrgängen.
„Schon als Kind fand ich schreiben einfacher als reden. Mit Fremden sprechen war das Allerschlimmste; noch mit zwölf heulte ich, wenn mich meine Mutter einkaufen schickte. So wurde das Schreiben zu dem Ort, an dem ich mich wohl und aufgehoben fühle und von wo aus ich am besten mit der Welt in Kontakt treten kann. Dass ich heute auch für Jugendliche schreibe, bedeutet für mich, dass sich der Kreis nun schließt.“
Von Michèle Minelli erscheint im Salis Verlag der Roman «Der Garten der anderen».