Didi Drobna «Ostblockherz», Piper

Wie weit das Nächste vom Jetzt entfernt sein kann und wie tief diese Entfernung bis in die Familie wirken kann, davon erzählt Didi Drobna in einem Roman, der sehr biographisch wirkt und die Geschichte vieler Familien erzählt, die ihren Kern, ihr Herz in einem anderen Land, in der Vergangenheit zurücklassen mussten.

Als erstes war es die Mutter, die eine Stelle hinter der Grenze in Wien fand, besser bezahlt als alles, was sie, selbst mit akademischer Ausbildung, in der Slowakei verdient hätte. Nach dem Zusammenbruch der DDR, der Sowjetunion, öffneten sich mit einem Mal Grenzen, die über Jahrzehnte Gegenden und Menschen hermetisch voneinander trennten. Mit einem Mal rückte der Westen in erreichbare Nähe und mit ihm der Traum, auch etwas vom grossen kapitalistischen Kuchen abschneiden zu können.
Nachdem die Mutter Fuss gefasst, eine feste Stelle gefunden hatte, zogen Vater und Tochter nach. Und nachdem auch noch ein kleiner Bruder die Familie vergrössert hatte, wenn auch mit einem Jahrzehnt Abstand zur Erzählerin, wären alle Voraussetzungen da gewesen, um ein kleines Stück Glück zu finden.

Didi Drobna «Ostblockherz», Piper, 2025, 176 Seiten, CHF ca. 32.90, ISBN 978-3-492-07280-9

Wenn das Wörtchen „wenn“ nicht wäre. Wenn der Vater in Österreich eine Stelle gefunden hätte, die seinen Fähigkeiten, seiner Ausbildung entsprochen hätte. Wenn der Vater den Zugang zur deutschen Sprache gefunden hätte. Wenn er seine Ostblock-Unterwürfigkeit, seine Ergebenheit nicht beibehalten hätte und seine Familie zum „Schlachtfeld“ seiner Kompensierungen geworden wäre. Wenn ein tief verankertes Patriarchat, ein versteinertes Familienverständnis nicht alles blockiert hätte, die an den Grenzen gefallenen Mauern unzerstörbar weiterwirkten an den Grenzen zum scheinbar Unmöglichen.

Didi Drobna erzählt in „Ostblockherz“ ihre ganz persönliche Geschichte. Ein literarischer Versuch, das zu verstehen, was sich über Jahrzehnte in ihre Seele brannte und erst viel zu spät zu einer Versöhnung wurde. Erst als ihr Vater schwer krank wird, bittet er seine Tochter, ihm zu helfen, ihm zur Seite zu stehen. Sie weiss, dass sie sich nicht um die Verpflichtungen einer Tochter drücken kann, obwohl ein Jahrzehnt vergangen war, währenddem sie sich mit gegenseitigem Schweigen straften, jeder verschanzt in seinem Schützengraben, auch wenn man sich zu Feierlichkeiten in der Wohnung der Eltern traf. Dazwischen die Mutter und der kleine Bruder.

Die Wut lebte in unserer Familie, sie war das fünfte Familienmitglied.

Der Vater gehört zu einer Sorte Mensch, die es nie gelernt hat, zu eigenen Gefühlen, eigenen Wünschen, eigenen Bedürfnissen zu stehen. Man spricht nicht, findet keine Worte. Familie hat nach einem vorgegebenen Muster zu funktionieren. Und in diesem Muster ist der Vater das Oberhaupt und alle weiblichen Mitglieder dienend, folgsam und untertänig. Und wenn die Situation unerträglich wird, dann ergreift man die Flucht, weg zur Sippe auf der anderen Seite der Grenze, weg in die innere Emigration, unerreichbar verbarrikadiert. Um dann irgendwann wieder aufzutauchen und Familie zu spielen.

Didi Drobna schildert behutsam einen schmerzlichen Kampf um Eigenständigkeit, Anerkennung und Verständnis – um nichts anderes als um Liebe und Respekt. Warum ist es so schwer, Schwäche zu zeigen? Einen Fehler zuzugeben? Den ersten Schritt zu tun. „Ostblockherz“ ist mit Nichten eine Abrechnung, sondern ein inniger Versuch zu verstehen. Als der Vater krank wird, seine Schwäche und Hilflosigkeit unübersehbar ist, wird er, der ein Leben lang den Starken zu repräsentieren hatte, der Hilfsbedürftige. „Ostblockherz“ erzählt von all den Zwängen, den Rollen, in die man eingeschlossen ist, von den stillen Kräften, die aus der Vergangenheit in die Gegenwart wirken und eine Zukunft in Freiheit zu blockieren drohen.

Mir grossem Feingefühl und viel Liebe geschrieben!

Didi Drobna wurde 1988 in Bratislava (ehem. Tschechoslowakei) geboren und lebt seit 1991 in Wien. Sie studierte Germanistik und Kommunikationswissenschaft an der Universität Wien. Für ihre literarische Arbeit wurde sie mit mehreren Stipendien und Literaturpreisen ausgezeichnet, zuletzt mit dem Förderpreis Literatur der Stadt Wien 2023. Didi Drobna arbeitet auch als Jurorin für Literaturwettbewerbe (Literaturbiennale Floriana, Literatur-Stipendium Stadt Linz, FM4 Wortlaut, Literaturwettbewerb Wartholz) und lehrt 2024/25 erneut am Institut für Sprachkunst der Universität für angewandte Kunst in Wien. Parallel zu ihrem Schreiben arbeitet Didi Drobna an einem Informatik-Forschungszentrum in Wien.

Rezension von «Was uns bleibt» auf literaturblatt.ch

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Beitragsbild © Barbara Wirl