Emanuel Stickelberger gehörte vor dem zweiten Weltkrieg zu den grossen Namen der Schweizer Literatur. Heute ist sein Name verblasst und seine Bücher warten selbst in Antiquariaten vergeblich auf neue Leser. Sein Enkel Jacob Stickelberger, Berner Troubadour zusammen mit Mani Matter, erinnert sich in «Mein fast grosser Grossvater» an einen Mann, der mit seinen Romanen Bestseller schrieb, dessen Name nach dem Krieg schnell verblasste, nie aber in der Erinnerung seines Enkels und der meinigen.
Es gab eine Zeit, in der ich ausschliesslich Schweizer Literatur las. In dieser Zeit gehörten Antiquariate zu meinen Jagdgründen. In St. Gallen das Antiquariat Ribaux. Dort drückte mir Louis Ribaux jeweils einen Schlüssel in die Hand für die Räume ums Eck im Obergeschoss, jene Regale, die im Laden am Unteren Graben keinen Platz hatten. Dort war mein Revier. Dort fanden jene Namen zu mir, die man heute noch in meiner Bibliothek findet; Ruth Blum, Felix Moeschlin, Kurt Guggenheim, Elisabeth Gerber… und Emanuel Stickelberger, der mit den Romanen «Zwingli», «Der Reiter auf dem fahlen Pferd» und anderen gross angelegte Werke schrieb, die sich aber immer in der Vergangenheit ansiedelten, mit Geschichte und Krieg zu tun hatten, etwas, wofür man nach dem letzten Weltkrieg keine Leselust mehr aufbringen wollte. Ich trug meinen Bücherpacken mit nach unten in den Laden, bezahlte weniger als zusammengezählt und las hungrig das, was in den Buchhandlungen längst als vergriffen galt.
Emanuel Stickelberger starb 1962 in St. Gallen. Am gleichen Ort und im gleichen Jahr wie ich geboren wurde. Das allein und die Tatsache, dass ich Emanuel Stickelbergers Romane vor fast vier Jahrzehnten verschlungen hatte, wären schon genug der Gründe «Mein fast grosser Grossvater» zu lesen. Auch wenn «Roman» auf dem Umschlag zu lesen ist, ist Jacob Stickelbergers Buch ein Erinnerungsbuch. Ein Erinnerungsbuch an eine längst vergessene Zeit, wenn auch nur zwei Generationen von der unseren entfernt. Ein Erinnerungsbuch an einen Mann, der nie am Ort seiner Träume ankam, der Industrieller war, in seiner Seele aber Dichter. An eine Zeit, als Patriarchen die Geschicke einer Familie bestimmten, an eine grossbürgerliche Familie, in der Herkunft und Stellung in der Gesellschaft alles bedeuteten. An einen Mann, dessen Welt die Bibliothek im ersten Stock war, ein bisschen über der Erde, ein bisschen über den Untiefen des Alltags.
So wie Emanuel Stickelberger damals aus der Zeit fiel, so klingt manchmal auch der Erzählton von «Mein fast grosser Grossvater»; ein bisschen aus der Zeit gefallen. Jacob Stickelberger erzählt aber mit soviel Liebe von seinem Grossvater, der im Alter im «Schlössli» in Uttwil am Bodensee residierte, dass man die sprachlichen Eigenheiten des Buches gerne in Kauf nimmt. «Mein fast grosser Grossvater» ist über grosse Strecken etwas steif erzählt und mit Sicherheit keine literarische Perle. Aber umso mehr ein Zeugnis, eine Liebeserklärung an einen Mann mit Prinzipien, der den Onkel Jacob Stickelbergers, einen der Söhne Emanuel Stickelbergers, wegen einer «falschen» Heirat für Jahre ins Exil treiben konnte.
Es tut sich eine Tür in die Vergangenheit auf. Jacob Stickelberger verherrlicht nicht. «Mein fast grosser Grossvater» ist kein Denkmal, aber ein aufschlussreiches Erinnerungsbuch mit Textbildern.
Emanuel Stickelberger, 1884 geboren, 1962 in St. Gallen gestorben, Sohn eines Bankdirektors wurde 1900 Angestellter der Gesellschaft für Chemische Industrie. 1909 gründete er in Basel und Haltingen eigene chemische Werke. Ab 1926 widmete sich Stickelberger ganz der Schriftstellerei. Seit 1932 war er Vorsitzender und seit 1944 Ehrenpräsident des von ihm mitbegründeten Deutsch-schweizerischen Pen-Clubs, seit 1937 auch Ehrenmitglied des Internationalen PEN-Clubs. Er lebte ab 1948 in Uttwil am Bodensee und in Wolfenschiessen im Kanton Nidwalden. Er verfasste in der Tradition der schweizerischen Realisten vorwiegend historische Romane und Erzählungen, daneben auch dramatische und lyrische Werke sowie historische Sachbücher.
Mein kleines Interview:
Emanuel Stickelberger ging es als Mann der Sprache, als Dichter nicht anders wie vielen, die nach dem Krieg ihre Stimme verloren. Aber Emanuel Stickelberger hat das Glück, einen schreibenden und singenden Enkel zu haben, der ihm ein „Erinnerungsbuch“ widmet. Wann haben Sie die Bücher Ihres Grossvaters gelesen? Gibt es eines, das Sie über die anderen stellen und wie liest man die Stimme des Grossvaters?
Ich habe längst nicht alle Bücher von Opapa gelesen – offen gestanden wirklich gelesen habe ich fast nur das Buch mit dem Titel: „Der Reiter auf dem fahlen Pferd“. Enorm spannend!
Es scheint, als wäre ihr Grossvater gar nie wirklich in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg angekommen, in der Zeit, in der man ihn als Schriftsteller mehr und mehr zu vergessen schien. Er war über sechzig, als der grosse Krieg zu Ende ging. Er schrieb gemessen an seiner Zeit zwischen den Kriegen viel, viel weniger. War ihr Grossvater enttäuscht vom Leser, vom Literaturbetrieb?Nein, er war einfach alt geworden. Recht eitel, wie er halt immer war, war’s ihm zumindest recht, dass er nach dem grossen Krieg wenigstens noch beachtet wurde, und dass ein Bewunderer von ihm (Wolfgang Adrian Martin) nach dem Krieg sein monatelanger Gast war und in mühseliger Arbeit eine erschöpfende Bibliographie über Opapas Schaffen zusammenstellte. Die gibt es, aber ich finde sie bei mir einfach nicht mehr.
Sie begegnen Ihrem Grossvater durchaus kritisch als Familienpatriarch, der es in seiner Zeit nicht unüblich, schafft, einen „Ungeratenen“ ins Exil zu schicken und als Sohn zu verleugnen. Hat das Schreiben Ihres Buches und Ihr eigenes Alter die Sicht auf ihren Grossvater verändert?
Überhaupt nicht. Ich als mittlerweile nun ebenfalls erwachsen Gewordener habe Opapa lediglich ergänzend auch aus dieser neuen Sicht nochmals charakterisiert. Der zweite Sohn Dietegen war übrigens nicht ungeraten; er hat sich nur erlaubt, eine Frau mit dem Namen Krummenacher zu heiraten und deshalb eine Familie mit ihr in Spanien zu gründen. Dietegen wurde nicht, sondern er hat sich mit seiner Frau selber ins Exil nach Spanien geschickt.
Ihr Grossvater wurde von Ihnen als Kind „Opapa“ genannt. Etwas, was nach der Lektüre Ihres Buches durchaus zu einem «Oh Papa“ werden könnte. Als Ihr Grossvater starb, waren Sie Student und 21. Sie schreiben, Sie hätten damals «die Mitteilung entgegengenommen – und fertig“. Klingt das Bedauern durch die Zeilen?
Das vorangestellte O steht schlicht nur für das dem „Vater“ vorangestellte Wort „Gross“, was „Grossvater“ ergibt. Ferner: Opapa ist als alter Mann gestorben. Das ist normal. Eigentlich gibt es für einen Erwachsenen, der ich mittlerweile weiss Gott geworden bin, keinen Grund, eine solche Tatsache zu bedauern. Das nur, wenn ich mich in meine Kindheit bzw. ins kindliche Gefühl zurückversetze. – So eben mein Buch.
In meinem Regal stehen sechs Romane Ihres Grossvaters und einer ihres Vaters Rudolf („Narren Gottes“). Wo stehen bei Ihnen die Bücher Ihres Grossvaters und was geschieht, wenn Sie sie in Brockenhäusern sehen?
Opapas Bücher stehen bei mir ungeordnet und vereinzelt noch herum. Wenn ich sie im Brockhaus sehen sollte: Tempora mutantur. Das ist der Lauf der Zeit. Ich beschreib‘s ja so in meinem Buch.
Jacob Stickelberger, geboren 1940, Rechtsanwalt, Chansonnier und Berner Troubadour. Nach Mani Matters Tod führten Stickelbeger und Fritz Widmer das noch gemeinsam mit Matter geschaffene Programm auf, die «Kriminalgschicht».
Ab 2002 wieder Auftritte mit den Troubadours, danach solo. Lebt in Zollikon bei Zürich.