Sommer 1968. J. J. ist 11. Es wird ein ganz besonderer Sommer. Ein Sommer mit seinem Freud El Greco und der Gewissheit, dass das Leben als Kind ein schnelles Ende haben kann. Ein Sommer, der mit einem grossen Feuer beginnt und an Thanksgiving mit schmerzender Einsamkeit endet. Ein sommerlicher Roadtripp mit J. J.s Vater, dorthin wo der Ort aller Sehsüchte ist. «El Greco und ich» ist ein wunderbarer Roman über die Kraft der Freundschaft und die Ernüchterungen beim Erwachen aus der Kindheit.
«Wohin gehen wir?» «Das wirst du schon sehen.»
El Greco ist mit seinen elf Jahren eine wandelnde Enzyklopädie. Einer, der mit aller Selbstverständlichkeit die New York Times und die Washington Post liest und auf alles eine Antwort zu haben scheint, ohne altklug zu sein. Aber für Tony «El Greco» Papadakis ist auch klar, dass ein Leben eine grosse Prüfung birgt, eine Aufgabe, die zu bestehen ist. Mehr als ein Schmerz, ein Beinbruch oder Probleme in der Schule. Aus J. J.s Sicht wäre schon El Greco Vater Probe genug. Ein Mann, der immer wieder abtaucht, nie da ist, wenn man ihn braucht und zu einem Monster werden kann, wenn er zuhause ist. Aber El Greco hatte ein klares und deutliches Gefühl von sich und seinem Schicksal vor Augen; er wusste, wohin er ging, beziehungsweise wohin das Leben und das Schicksal ihn führten.
Auch J. J.s Mutter unterscheidet sich in fast allem von Tonys, El Grecos Mutter. Während Mrs. Papadakis geheimnisvoll bleibt, mühelos hin -und herwechseln kann zwischen angestrengter Mutter und erotisierender Femme fatal, taucht J. J.s Mutter ab in tiefe Löcher, sitzt da, sich selbst und alles andere vergessend. J. J.s Schwester Lauren ist schon alt, achtzehn, und sein älterer Bruder ein erbarmungsloser Kotzbrocken. Kein Wunder ist die Freundschaft zu El Greco Sinnbild für Beständigkeit, Sicherheit und Halt. J. J. und El Greco sind Blutsbrüder. Nicht nur durch ein Versprechen untrennbar miteinander verbunden, sondern durch all die wilden Taten, die Spuren aus Rauch und Asche, die sie hinter sich herziehen.
Bis beim Geburtstag und in den Wochen danach alles, aber auch wirklich alles aus den Fugen zu geraten scheint. J. J. wünscht sich von seinen Eltern nur eine Schallplatte, das Album Big Hits (High Tide and Green Grass) von den Rolling Stones. Kein Fahrrad, aber dafür diese eine Platte. Aber sein religiöser Vater kauft ihm «Country Fever» von Rick Nelson. Die Verkörperung dessen, was J. J. hasst. Und kurz danach kommt ein Anruf von der Familie Papadakis. El Greco sei im Spital – Leukämie. Während sich niemand traut, J. J. vom wahren Ausmass dieser Krankheit zu erzählen, spürt dieser genau, dass nichts mehr ist, wie es einmal war. Der einzige, der ihm in diesen Tagen wirklich beisteht, ist weder Mutter noch Vater, sondern ein alter Nachbar, der in einem verwahrlosten Haus wohnt und sein Geld als Sargträger verdient. Old Man Taylor, der auf seiner halb verfallenen Veranda sitzt und auf seinem Stuhl gemächlich hin- und herschaukelt. Er ist der einzige, der auf die Fragen des Jungen ohne Ausflüchte und Schummeleien antwortet, der zuerst zuhört, bevor er spricht. Ein Mann, dem alles genommen wurde, der nichts mehr zu verlieren hat.
«El Greco und ich» ist die Geschichte über «die Vertreibung aus dem Paradies». Über einen Elfjährigen, der in einem einzigen Sommer eine Welt verstehen soll, die das Böse zu belohnen scheint und die Guten bestraft. Selbst der Versuch von J. J.s Vater, die beiden mit einer Autofahrt an den Pazifik aus ihrer Erstarrung zu lösen, wiegt den Schmerz nicht auf, dass etwas zu Ende geht, von dem man glaubte, es wäre das Leben. Die USA beben in diesen Jahren in Unruhen und grassierendem Rassismus. Im Sommer 1967 sterben bei Rassenunruhen in Detroit 43 Menschen und über 1000 werden verletzt. Im Frühling 1968 stirbt der schwarze Friedensnobelpreisträger Martin Luther King durch die Kugel eines weissen Kleinkriminellen. «El Greco und ich» beschreibt die Wellen, die innere und äussere Beben auslösen und wie lange sie nachhallen. Ein starkes Buch, ein starkes Debüt von einem Mann, von dem man sich mehr erhofft.
Mark Thompson, 1958 geboren und aufgewachsen in Stockton-on-Tees, studierte Politikwissenschaft an der London Guildhall University, hat viele Jahre in Spanien gelebt, intensiv die USA bereist und spielt Gitarre in einer Rockband. «El Greco und ich» ist sein erster Roman. Mark Thompson lebt mit seiner Familie in York.
Die Übersetzerin Katja Scholtz, geboren 1971, studierte englische und deutsche Literatur- und Sprachwissenschaft in Freiburg, Aberdeen und Bonn. Sie lebt und arbeitet in Hamburg und übersetzte u.a. Werke von Gabriel Josipovici, Mary Lavin und Julie Otsuka ins Deutsche. Für ihre Übersetzung von «Wovon wir träumten» wurde sie 2014 gemeinsam mit der Autorin Julie Otsuka mit dem Albatros-Literaturpreis der Günter-Grass-Stiftung ausgezeichnet.
Beitragsbild © Sandra Kottonau