Wenn einem die Vergangenheit überholt, überrollt. Wenn sich Gegenwart vernichtend kreuzt, wo man doch eigentlich gerne aussteigen würde, aus dem Zug, der ohne Halt durch die Zeit rast. Der schmale aber gewichtige Roman von Marion Brasch tritt leichtfüssig auf, um im Verlaufe seines Erzählens zu beweisen, was Leben und erst recht die Literatur zu erschaffen vermag.
Ein grossartiges Buch. Vielleicht schon deshalb, weil es mich am Anfang der Lektüre auf eine «falsche» Fährte führte und ich geneigt war, es auf die Seite zu legen. Weil sich ein scheinbar leicht durchschaubares Konzept als viel verflochtener erweist. Weil es einem bei der Lektüre bewusst macht, wie sehr man sich in seinem Leben mit dem eigenen beschäftigt, angesichts der Tatsache, dass gleichzeitig Milliarden anderer Leben passieren, jedes mit dem Anspruch, der Mittelpunkt eines Kosmos zu sein. Weil das Szenario wie ein Film von schnellen Schnitten lebt, alles andere als behäbig erzählt und einem die Personen trotz aller Leerstellen im Scheinwerferlicht des Moments erstaunlich nahe kommen. Weil das Buch mit seinen 154 Seiten suggeriert, dass man es an einem Abend so leicht weglesen kann.
Manchmal spielt uns die Erinnerung einen Streich, schlägt uns ein Schnippchen, gaukelt uns etwas vor.
Toni und Alex. Die beiden kennen sich nicht und doch sind ihre Leben miteinander verzahnt. Toni lebt in einem Wohnwagen irgendwo auf dem Land. Sie ist jung, zeichnet und hofft, damit ihr Leben auf die Reihe zu bekommen. Alex ist Roadie einer Band, schafft das Equipment von einem Spielort zum andern, ist nie zuhause bei Frau und Kind, wenn man ihn braucht und hat eine andere Frau, die er ebenso liebt, wie seine eigene Frau. Toni macht sich auf den Weg zu einer Verlegerin, die ihr verspricht, aus ihren Zeichnungen ein Buch zu machen, macht sich auf den Weg, irgendwann nach Neuseeland zu fahren zu Oli, ihrem einzigen Freund, der es dort geschafft hat. Alex macht sich auf den Weg zu seiner kleinen Tochter, die nach einer Blinddarmoperation im Spital liegt, zu seiner Frau, die genau das Gegenteil von dem ist, was die andere Frau für ihn ist, auf den Weg nach Hause, das er aber schon lange verloren hat.
«Aus dem Irgendwann wurde ein Nirgendwann. Und im Nirgendwann hingen sie dann fest.»
Sie beide tragen eine Schuld mit sich herum oder zumindest das permanente Verheeren dessen, was ein einziger Moment in ihrer beider Vergangenheit anrichtete, ein Moment, der nicht zu korrigieren, nicht auszulöschen ist. Ein Moment, der sie zu Getriebenen macht, die durch ein Leben stolpern, dass aus dem Gleichgewicht gekommen ist. Toni trifft ihren unzuverlässigen Vater, das, was von ihrer Familie übrig geblieben ist, denn die Mutter dämmert und der Bruder ist tot, trifft ihn, ohne dass Versöhnung eine Chance hätte. Alex kommt zurück zu Frau und Kind und muss feststellen, dass nichts so ist, wie er es sich auf seinen Fahrten mit dem Truck zurechtgelegt hat.
«So ist das mit der Erinnerung – sie führt uns an der Nase herum.»
Toni und Alex Geschichten sind untrennbar miteinander verzahnt. Eine Tatsache, von der die Protagonisten nichts wissen, in kurzen, aufblitzenden Momenten höchstens erahnen, mehr unbewusst als bewusst. Marion Brasch erzählt einen Tag, vierundzwanzig Stunden, in denen sich die Leben mehrfach kreuzen, letztlich mit fatalen Folgen. Marion Brasch erzählt aber nicht nur einfach zwei kunstvoll ineinander verwobene Geschichten, perfekt inszeniert, spannend bis zur letzten Seite. „Lieber woanders“ schildert genau das, was der Titel verrät. Jeder legt sich sein Leben zurecht, gibt nur soviel preis, damit das Konstrukt nicht in sich zusammenfällt. Wir leben nicht wirklich mit dem Bewusstsein, wie sehr unser Leben mit jenem vieler anderer, von denen wir keine Ahnung haben, verzahnt und verbunden ist. Wie sehr die Metapher „das Leben in die Hände zu nehmen“ über die tatsächlichen Möglichkeiten des Individuums hinwegtäuscht!
«In jedem steckt ein anderer. In jedem Tapferen ein Feigling, in jedem Zärtlichen ein Grobian, in jedem Ehrlichen ein Lügner, in jedem Guten ein Schlechter.»
Marion Brasch wurde 1961 in Berlin geboren. Nach dem Abitur arbeitete die gelernte Schriftsetzerin in einer Druckerei, bei verschiedenen Verlagen und beim Komponistenverband der DDR, später fürs Radio. Bei S. Fischer erschienen die Romane «Ab jetzt ist Ruhe», «Wunderlich fährt nach Norden» und zuletzt «Lieber woanders».
Ein Gespräch mit Marion Brasch über den Roman auf 3sat
Beitragsbild © Sandra Kottonau