Es gibt Schreibende, die Geschichten erzählen wollen, mit Spannung fesseln. Andere, die politische und gesellschaftskritische Inhalte und Meinungen in literarisches Schreiben verpacken. Was willst du mit deinem Schreiben? Ganz ehrlich!
Literarisches Schreiben ist mein unermüdlicher Versuch, meine Sichtweise der Welt (öffentlich) darzustellen. Um dem vertrackten Leben, dem Lebenssinn nachzuspüren. Meinem aktuellen «Stand der Erkenntnis» näher zu kommen, ihn zu umkreisen, im glücklichsten Fall ein paar Sätze lang zu erfassen – um ihn sogleich wieder zu verlieren ans Ungefähre.
Wo und wann liegen in deinem Schreibprozess der schönste oder/und der schwierigste Moment? Gibt es gar Momente vor denen du dich fürchtest?
Der schönste Moment ist, wenn unvermittelt ein Satz auf dem Papier, auf der Bildfläche steht, der aus einem Inneren aufgestiegen ist, als wäre es ein Äusseres und als wäre er von jemand anderem formuliert worden, etwas ausdrückend, das einem neu ist und gleichzeitig vom Ureigentlichen spricht.
Der schwierigste Moment ist, wenn die vermeintlich tolle Anlage des Textes sich als untauglich erweist.
Lässt du dich während des Schreibens beeinflussen, verleiten, verführen? Spielen andere Autorinnen und Autoren, Bücher (nicht jene, die es zur Recherche braucht), Musik, besondere Aktivitäten eine entscheidende Rolle?
Während des Schreibprozesses spielt alles eine Rolle. Es ist eine Zeit der intensivierten Wahrnehmung, in der Gehörtes, Beobachtetes, Geträumtes, Gedachtes, Gelesenes blitzartig Bedeutung bekommen kann und möglicherweise Eingang in den Text findet. Das ist schön, aber im Fall von intensiven Leseerlebnissen auch gefährlich, da es den Ton des eigenen Schreibens zu stark beeinflussen kann.
Hat Literatur im Gegensatz zu allen anderen Künsten eine spezielle Verantwortung? Oder werden Schriftstellerinnen und Schriftsteller gegenüber andern Künsten anders gemessen? Warum sind es vielfach die Schreibenden, von denen man in Krisen eine Stimme fordert?
Texte sind naturgemäss erst einmal «Verstandesdinge». Sie werden – da Sprachmaterial – mit dem Verstand aufgenommen und aufgeschlüsselt, auf ihre Form, auf ihren Inhalt überprüft, mit eigenem Wissen, eigenen Erfahrungsschätzen abgeglichen. Deshalb werden von Schreibenden immer wieder ganz direkte politische, gesellschaftliche, kulturelle, philosophische Stellungnahmen gefordert. Die Schreibenden, welche ihre Stimme in diesem Sinne einsetzen, tragen meines Erachtens eine erhöhte Verantwortung, weil ihr Medium 1:1 verstanden werden kann, also ganz unmittelbar produziert und rezipiert werden kann. Sprache kann gewaltig wirken, mächtig sein, im Guten wie im Schlechten. Wichtig ist meines Erachtens die Debatte, die mehrdimensionale Sichtweise. Manchmal auch die Provokation.
Inwiefern schärft dein Schreiben Sichtweisen, Bewusstsein und Einstellung?
Ich glaube, mehr als das Schreiben schärft das Lesen, schärfen überhaupt kulturelle Aktivitäten verschiedenster Art, die eigene Sichtweise. Das Schreiben ist für mich eher der Ausdruck eines vorangegangenen Bewusstseinsprozesses, der unter Umständen bereits jahrelang, lebenslang gelaufen ist.
Es gibt die viel zitierte Einsamkeit des Schreibens, jenen Ort, wo man ganz alleine ist mit sich und dem entstehenden Text. Muss man diese Einsamkeit als Schreibende mögen oder tun Sie aktiv etwas dafür/dagegen?
Schreiben als Akt ist eine (köstlich) einsame Sache – der Ort muss es nicht sein. Das I-Pad ist für mich das geeignetste Instrument, um einen geschützten Schreibort herzustellen, wo immer es auch sei. Ähnliches gilt für das winzige Notizbüchlein.
Gibt es für dich Grenzen des Schreibens? Grenzen in Inhalten, Sprache, Textformen, ohne damit von Selbstzensur sprechen zu wollen?
Mein Schreiben ist ganz natürlich begrenzt durch meine Kompetenz als Schreibende. Ich kann mit Gewinn nur das leisten, was mir durch meine Begabung zu leisten möglich ist. Natürlich teste ich immer wieder Grenzen aus, um auf neues zu stossen. Oft weiss man erst, wenn man etwas geschrieben – und möglicherweise dem Öffentlichkeitstest unterzogen hat – ob ein Text, ein Genre für einen taugt oder nicht, ob man die eigenen Grenzen glücklich oder beschämend ausgereizt hat. Anstelle von Selbstzensur würde ich die Wichtigkeit von Selbstkritik setzen. Ausprobieren ja, unbedingt – und dann mit kritischem Geist beurteilen oder beurteilen lassen. Das Einhalten ethischer Grenzen ist für mich unabdingbar.
Erzähl kurz von einem literarischen Geheimtipp, den es zu entdecken lohnt und den du vor noch nicht allzu langer Zeit gelesen haben?
Mit grossem Gewinn habe ich gelesen «H ist für Habicht» der englischen Autorin Helen MacDonald. Es handelt sich um eine faszinierende Mischung zwischen Belletristik und Sachbuch, ebenso sachlich wie poetisch, wild wie gezähmt, kulturgeschichtlich und zutiefst subjektiv, intelligent und intuitiv. Es erzählt vom Trauerprozess einer Tochter um ihren Vater, wie er wohl noch nie gelebt und beschrieben worden ist.
Zählst du 3 Bücher auf, die dich prägten, die du vielleicht mehr als einmal gelesen hast und in deinen Regalen einen besonderen Platz haben?
Als Kind: «Rösslein Hü». Ich weiss nicht, wie viele Male ich es gelesen habe. In der Kantonsschule: «Warten auf Godot» von Samuel Beckett. In den 90er Jahren: «Kapitän Nemos Bibliothek» von Per Olov Enquist. Um nur drei von unzähligen Rosinen rauszupicken.
Frisch hätte wohl auch als Architekt sein Auskommen gefunden und Dürrenmatt kippte eine ganze Weile zwischen Malerei und dem Schreiben. Wärst du nicht Schriftstellerin oder Schriftsteller, hätten sich deine Bücher trotz vieler Versuche nicht verlegen lassen, hätte es eine Alternative gegeben? Gab es diesen Moment, der darüber entschied, ob du weiter schreiben willst?
Ich war 40, als mein erstes Buch publiziert wurde. Ich hatte also die Alternative vorher gewählt: Logopädie. Nicht nur als Broterwerb, sondern als tolle Herausforderung, mit Sprache auf eine andere Art Umgang zu pflegen. Seit ich schreiben gelernt hatte, habe ich nie mehr damit aufgehört. Als dann aber 1981 in der Literaturzeitschrift «NOISMA» mein erstes Gedicht in gedruckter Form erschien, gab mir dies einen ungeheuren Auftrieb.
Was tust Sie mit gekauften oder geschenkten Büchern, die dir nicht gefallen?Teilweise schenke ich sie weiter, teilweise wandern sie in die Frauenbibliothek «Wyborada», ins Antiquariat oder ins Brockenhaus. Zerlesene Bücher wandern ins Altpapier.
Liebe Christine, vielen Dank!
Christine Fischer, 1952 in Triengen LU geboren, studierte Logopädie am Heilpädagogischen Institut der Universität Freiburg. Sie wohnt in St. Gallen und ist als Sprachtherapeutin tätig. Veröffentlichung der Bücher «Eisland» (1992), «Lange Zeit» (1994), «Augenstille» (1999), «Solo für vier Stimmen» (2003), «Von Wind und Wellen, Haut und Haar» (2004), «Vögel, die mit Wolken reisen» (2005) und «Nachruf auf eine Insel» (2009). Ausgezeichnet mit verschiedenen Förder- und Werkpreisen. Webseite der Autorin
In ihrem neusten Roman «Lebzeiten» stehen Lore und Karl kurz vor der Pensionierung. Da diagnostiziert der Arzt eine Erkrankung, die Lore «Kopfgeschehen» nennt. Allmählich wird sie ihr Gedächtnis und die Sprache verlieren. Lore beginnt zu schreiben. Kein Tagebuch, sondern einen Brief an das Leben. Sie erzählt vom veränderten Zusammenleben mit Karl, von ihrer Arbeit als Kindergärtnerin, die nun gefährdet ist. Sie beschwört eine rätselhafte Libbe herauf und die Jahre mit ihrer besten Freundin Eileen, die Lore und Karl ihren kleinen Sohn anvertraut hat: Oliver. Doch Oliver ist inzwischen erwachsen und stellt seine Adoptiveltern auf eine harte Probe. Die Krankheit schreitet fort, verändert Lores Sprache. Doch Lore gibt nicht auf. Auch als ihr die Wörter mehr und mehr entgleiten, hält sie die Zwiesprache mit dem Leben aufrecht und öffnet sich neuen Erfahrungen.
Das war der 2. Teil einer kleinen Reihe. Am 1. August antwortet Klaus Modick. Seien Sie wieder dabei!