„Was kann und was darf Kunst vor dem Hintergrund von Krieg und Terror? In Zeiten, wo links wie rechts die Fahnen Schwarz und Weiß gehisst werden und die Freiheit der Kunst auf die Parolen der Politik zurechtgestutzt wird, sollte man sich vielleicht an den radikalen Experimenten orientieren, mit denen die Dadaisten und Surrealisten vor hundert Jahren auf die Schlächtereien des Ersten Weltkriegs antworteten“
Das schreibt der renommierte Literaturkritiker Stefan Zweifel in einem aktuellen NZZ-Feuilleton- Essay. Zweifel hat die Moderation des Festivals übernommen, auch weil ihm die Konzeption gefiel, die die beiden Ideengeber und Initiatoren Luke Wilkins, ein in Basel ansässiger Schriftsteller und der Freiburger Lautpoet Alexander Grimm, entwickelt haben.
Als Herzstück des Konzepts könnte das Motto gelten, das der jüdische Philologe Victor Klemperer seinem Buch LTI, einer Analyse der Sprache des Dritten Reichs, voranstellte: Sprache ist mehr als Blut. Kommen die Widerstandskräfte einer Gesellschaft und auch die Möglichkeiten von kultureller und gesellschaftlicher Metamorphose nicht zu einem guten Teil aus der Sprache, der Literatur und der Dichtung? Könnte man also sagen, dass die Zukunft in der Sprache geboren wird? Die Dadaisten jedenfalls haben vorbildhaft vorgemacht, wie aus dem Klang der Sprache und aus der Sprengung des normativen Sinns der Sprache eine Kunstform entwickelt werden kann, von der aus die Gesellschaft neue Impulse bekommt.
Darauf möchte sich das Festival besinnen, indem es die Lautpoesie feiert und sie auf ihre revolutionären bzw. friedenserhaltenden Impulse hin befragt. Was im öffentlichen Diskurs zu den Eskalationsspiralen unserer Gegenwart viel zu wenig bedacht wird, jedoch zu den wichtigsten Prämissen der deutschen, vielleicht auch europäischen Nachkriegsliteratur zählt: Es ist letztlich die Sprache, in der ein Krieg und kriegerisches Denken entsteht, überwintert, aber in der beides auch befriedet und in der Reflexion – über dichterische Prozesse, die der durch die Gewalt entstehenden Sprachlosigkeit literarische Methoden entgegensetzen – in ästhetische Energie aufgelöst werden kann.
Die Laupoesie, die sich weniger der sprachlichen Semantik als dem Klang, der Musikalität der Worte und Laute und der Lust an ihrer Sinnfreiheit widmet und dabei die Wahrnehmung öffnet für die Absurdität der Welt, bietet einen großen Reichtum solcher literarischen Methoden. Dabei sind etwa so wunderbar anregende und das Zwerchfell kitzelnde Poeme wie Kurt Schwitters Ursonate entstanden, die vom Freiburger Schauspieler Heinzl Spagl auf dem Festival aufgeführt wird. Spagl wird dabei unter Beweis stellen, dass das kunstvolle Stammeln und Grausen von Schwitters, angesichts seiner Erfahrung von kriegerischer Gewalt, auch heute noch kathartische Wirkungen im Publikum auszulösen vermag.
Die Gleichzeitigkeit von Schwerem und Leichtem, von verzweifelter Ratlosigkeit und schwarzem Humor ist das Verwandtschaftsmerkmal der Auftritte vieler Lautpoet*innen. So möchte das Festival Erlebnisse mit Sprache ermöglichen, in denen das Rabenschwarze mit dem Spontanen, dem Gutgelaunten und Zukunftsoffenen ineins fällt. Zugleich erforscht das international ausgerichtete Festival auch, wie sich Lautpoet*innen, die mit dialektalem Material arbeiten, zueinander verhalten: Was gibt es für klangliche Schnittmengen zwischen französischer, elsässischer, schweizerischer und deutscher Lautpoesie? Gerade auch das Dialektale, Muttersprachliche bietet einen unerschöpflichen Reichtum an Klangfarben, der auf dem Festival in all seinen Nuancen ausgelotet werden soll.
Das Festival ist Teil des von der Baden-Württemberg Stiftung lancierten Literatursommers 2024 und wird mit einem opulenten und prominent besetzten Programm vom 27. – 29. September im Literaturhaus Freiburg, im Schopf2 (den Kulturhallen der Kreativpioniere Freiburg e.V.) und vom Literaturhaus Basel (in einer Location auf dem Jazzcampus) aus der Taufe gehoben. Indem es sowohl in Freiburg als auch in Basel über die Bühne geht und bedeutende schweizerische, deutsche und französisch-sprachige Dichterinnen eingeladen hat, möchte es eine neue literarische Öffentlichkeit im Dreiländereck schaffen. Auch hierfür ist die Lautpoesie prädestiniert, da sie sich leicht über Sprachbarrieren hinwegsetzen oder einfach eine neue gemeinsame Sprache erfinden kann.
Bereits im Vorfeld haben die Festival-Macher viel Zuspruch bekommen und konnten neben aufsteigenden Lautpoesie-Sternen wie Dagmara Kraus oder Violaine Lochu auch Koryphäen wie Urs Allemann, Michael Lentz oder Christian Uetz gewinnen. Ein weiteres Highlight werden die Auftritte zweier Elefantengedächtnisse der europäischen Gewaltgeschichte Alexander Kluge und Klaus Theweleit sein. Theweleit wird aus seinem aktuellen Buch a-e-i-o-u lesen und das Publikum auf eine rasante Reise zu den kriegerischen Ursprüngen des Vokalalphabets im homerischen Mittelmeerraum mitnehmen und Alexander Kluge hat exklusiv für das Festival dadaistische Kurzfilme produziert, wozu er mit Stefan Zweifel ein Werkgespräch führen wird.
Für Abwechslung im Programm sorgen Konzerte mit Musiker*innen, die ästhetische Verfahren anwenden, die mit der Lautpoesie verwandt sind, wie etwa das Ernst- Eggimann-Konzert des Oberton-Chors Partial. Das vollständige Programm findet sich hier.