Anne Weber fragt: «Wie kommt es, dass Literatur so sehr vom Bösen fasziniert ist? Wäre das Gute nicht viel rätselhafter? Gibt es für das Gute ebenso einleuchtende Erklärungen wie für das Böse; fehlende Liebe, Verletzungen und Enttäuschungen aller Art?» «Kirio», der dem neuen Roman der Schriftstellerin seinen Namen gibt, ist ein Mensch ohne Arg.
Was macht den Durchschnittsmenschen aus? Die massvolle Ansammlung aller möglichen Eigenschaften? Dass es Menschen gibt, die über besondere, nicht immer gute Eigenschaften verfügen, beweisen die Medien erschreckend. «Kirio» ist die Geschichte eines jungen Menschen, dem gewisse «Fähigkeiten» und Eigenschaften wie Machtstreben, Gier, Härte und Erfolgsstreben gänzlich fehlen. Der Urtypus Antiheld, dem alles fehlt, was den Menschen sonst antreibt, vielleicht sogar die Liebe. Kirio, der im Irrenhaus landet nach einem angeblich missglückten Kidnapping des französischen Präsidenten.
Erzählt wird die Geschichte von einer geheimnisvollen Stimme aus dem Äther, einer allgegenwärtigen, die sich selbst zu wundern scheint, dass die Spezies Mensch ein so rares Exemplar hervorbringen kann, eine Figur, die an den heiligen Franziskus erinnert, der mit Tieren sprach.
Kirios Leben verläuft schon im Bauch seiner Mutter nach anderen Regeln. Kirios Geburt wird von einer Stimme am Telefon angekündigt. Es wird eine ausnehmend leichte Geburt, eher Rückenwind verursachend. Die Geburt selbst vollzieht sich im Auto in einem Strassentunnel unter dem Druck der Berge über ihnen. Mit drei Jahren kann Kirio lesen und schreiben und mit sieben soll er in die Klavierklasse am Konservatorium angemeldet werden. Aber Kirio will lieber Flöte spielen, nach seiner Pfeife tanzen. Und noch zwei ganz spezielle Eigenschaften Kirios; er kümmert sich nicht um das Urteil anderer und ist nicht an Konventionen interessiert. Was Kirio jedoch am meisten auszeichnet, ist seine Fähigkeit «Wunder» auszulösen, ohne dass er es selbst bemerken würde. Er verhindert schon als kleines Kind einen Mord durch einen Schrei. Grosse und kleine Wirkungen, ohne dass Kirio sich dessen bewusst wäre. Und wenn er dann später in der Schule als Störefried gilt, dann nicht beabsichtigt oder aus Böswilligkeit, sondern nur schon deshalb, weil er sich im Handstand oder das Rad schlagend fortbewegt, selbst im Klassenzimmer. Sein wirkliches Gesicht aber zeigt Kirio, wenn man ihm begegnet, wenn Menschen nach einer Begegnung merken, wie ihnen unwillkürlich das Herz aufging. Kirio hört zu, allem und jedem, auch einem Tier oder einem Stein, ohne Misstrauen, ohne Hintergedanken, ohne Absicht.
Mit sechzehn haut er ab, geht weg, um irgendwann und irgendwo stehen zu bleiben. Menschen begegnen ihm, berichten von ihm, wundern sich, lieben ihn, ohne ihn zu verstehen, aber mit dem Gefühl, erkannt worden zu sein. «Durch Kirio erhielt die Menschheit Botschaft vom Mars oder von noch weiter weg, von der Herkules-Zwerggalaxie vielleicht, oder von der Kleinen Magellan’schen Wolke: aus einer unbekannten Welt.»
Obwohl in diese Welt geboren, ist Kirio nie wirklich Teil von ihr. Anne Weber interessiert sich für die Wellen, die dieses Leben verursacht, den Schweif, den es hinter sich herzieht. Der Roman klärt nicht auf, bringt mich als Leser kaum in die Nähe Kirios. Kirio bleibt unfassbar, ein Rätsel, unerklärbar für alle, die ihm begegnen auf seiner Odyssee durch eine immer neue Welt. Vielleicht ist Kirio ein Gegenentwurf zum modernen Menschen und der Roman eine Versuchsanordnung mit der Frage, was geschehen würde, wenn jemend ohne Arg nur nach seiner eigenen «Flöte» tanzt. Mit Sicherheit hatte Kirio laut einem Interview ein reales Vorbild, einen Menschen in der Umgebung der Autorin, der ihr ein Rätsel blieb.
Anne Weber interessiert sich für das, was den Menschen ausmachen würde, aber immer mehr zu verschwinden droht. Schon in ihrem vorletzten Roman «Tal der Herrlichkeiten» war es eine Liebesgeschichte der besonderen Art; die Liebesgeschichte zweier Verlorener, zweier verletzter Seelen, die sich treffen und wieder verlieren. So wie sich das Leben Kirios verliert. Anne Weber schreibt anders. So wie sich die Liebenden in «Tal der Herrlichkeiten» oder Kirio nicht um Konventionen scheren, so scheint sich ihr Erzählen nicht an Konventionen zu halten. «Kirio» scheint unbekümmert erzählt, vielleicht weil die Autorin selbst etwas von Kirios kindlich scheinenden Wesenszügen hinüberretten konnte. Kirio ist kein Heiliger, aber ein Mensch ohne Masken. Vielleicht zeichnet Anne Weber jenen Rest, der vom Paradies in den Menschen übrig geblieben ist. «Qui rit» heisst «der lacht», «Kyrios» «das Göttliche, Übermenschliche».
Anne Weber macht Lesen zum Abenteuer.
Anne Weber, geboren 1964 in Offenbach, lebt als Autorin und Übersetzerin in Paris. Zuletzt erschienen bei S. Fischer «Kirio», «Ahnen», «Tal der Herrlichkeiten», «August» und «Luft und Liebe». Ihr Werk wurde unter anderem mit dem Heimito-von-Doderer-Preis, dem 3sat-Preis, dem Kranichsteiner Literturpreis und dem Johann-Heinrich-Voß-Preis ausgezeichnet. Ihre Bücher schreibt Anne Weber auf Deutsch und Französisch.
Ein Interview mit Anna Weber über ihren Roman «Kirio» auf der Verlagswebseite
Titelbild: Sandra Kottonau