Caren, eine Journalistin, sitzt auf einem Flughafen fest. Der Teil, in dem die Passagiere auf ihren Flug von London nach Paris warten, ist abgesperrt. Nichts geht mehr. Niemand scheint etwas über die Gründe zu wissen. Irgendwann werden sogar Mobiltelefone eingesammelt. In diesem Vakuum aus Ungewissheit und latenter Angst sitzt Caren und schwenkt mit ihrem Blick in die Gesichter der Wartenden und in die Windungen ihrer eigenen Erinnerung.
Husch Josten erzählt klug und vielschichtig. Sie lässt mich teilhaben bis tief in das Innenleben einer Frau, die zum Innehalten gezwungen ist und dadurch Zeit hat, ihren Dämonen nachzuspüren. Sind es Zufälle, die sie immer wieder an Terror und Gewalt vorbeischrammen lassen? Warum blieb sie «übrig»? Der Schrecken von lauernder Vernichtung nistete sich ein, denn mehr als einmal schien es blosser Zufall, der sie vor dem sicheren Tod rettete. Seit jenen Geschehnissen senkt sich der Alp immer wieder langsam auf sie nieder, droht sie zu ersticken. Trotzdem bleibt sie Journalisten, bleibt beruflich ganz nah an diesem allgegenwärtigen Schrecken.
Aber Husch Josten genügt ein Erzählstrang allein nicht. Caren, die Journalistin, ist befreundet mit Ben. Sie liebt Ben. Aber Ben ist liiert mit Adelle. Eine Dreiecksgeschichte, in der jeder von jedem weiss, in der man sich in Gewohnheiten und scheinbaren Sicherheiten eingerichtet hat. Das Resultat aus Vernunft und Entscheidung, weil Caren alles andere als überzeugt davon ist, dass Ehen ehrlich, lebbar und zeitgemäss sind. Ben ist der Tadellose. Und eben diese Pause auf dem Flughafen Heathrow zwingt Caren ungewollt, sich Gedanken zu machen.
Während die Zeit beinahe stillzustehen scheint, beginnt sie zu fragen, was Liebe ihr bedeuten soll, ob nicht zu viele unglücklich sind in ihrer «pasteurisierten Zweisamkeit, ihren scheinheiligen Konstruktionen, in erstarrten Bildern der Tadellosigkeit». Und im Gate, Caren gegenüber, auch einer der Harrenden, sitzt ein Mann, liest und spricht, als würde er den Text auswendig lernen. Das Buch in seinen Händen ist vom Sprachphilosophen Wittgenstein. Caren, die den Unbekannten für sich Wittgenstein nennt, kommt mit ihm ins Gespräch. Zuerst über den Zufall, an den beide nicht glauben, später über das Wesen von Geschichten. Darüber, dass Geschichten das sind, was Menschen von allen anderen Lebewesen unterscheidet und letztlich alles sind, was Menschen «haben». Und dass sich hinter Geschichten andere Geschichten verbergen, unausgesprochene, der Schatten ihrer selbst. Beide, «Wittgenstein» und Caren, sind auf der Suche nach Geschichten, ihrer Geschichte. Es entwickelt sich zwischen den beiden ein Gespräch über Philosophie und Geschichten, ein Dialog, der packt und mitreisst. Ein Dialog, der zeigt, dass es Husch Josten beim Schreiben ebenfalls um weit mehr geht, als darum, eine Geschichte zu erzählen.
«Hier sind Drachen» ist ein Roman, in dem eine Lunte brennt. Bis es wirklich knallt und nichts mehr ist, wie es einmal war, nicht einmal Carens Liebe zu Ben. Husch Josten belohnt mich mit einem äusserst gescheiten und spannenden Buch über die Ohnmacht in der Liebe, über die Wirkung von Gewalt und die Macht von Geschichten. Ein gewichtiges Buch!
Husch Josten, geboren 1969, studierte Geschichte und Staatsrecht in Köln und Paris. Sie volontierte und arbeitete als Journalistin in beiden Städten, bis sie Mitte der 2000er Jahre nach London zog, wo sie als Autorin für Tageszeitungen und Magazine tätig war. 2011 erschien ihr Romandebüt »In Sachen Joseph«, das für den Aspekte-Literaturpreis nominiert wurde. 2012 legte sie den vielgelobten zweiten Roman »Das Glück von Frau Pfeiffer« vor und 2013 den Geschichtenband »Fragen Sie nach Fritz«. 2014 erschien der Roman »Der tadellose Herr Taft« und im Frühjahr 2017 »Hier sind Drachen« im Berlin Verlag. Husch Josten lebt heute wieder in Köln.
Titelfoto: Sandra Kottonau