Sergej Lebedew «Die Beschützerin», S. Fischer

Dreh- und Angelpunkt dieses Romans ist ein Loch, Schacht ¾, eine Kohlenmine im Donbass, jener Gegend, in der seit Jahren ein unerbittlicher Angriffskrieg der Russen gegen ihren einstigen Bruderstaat, die Ukraine, den Boden mit Blut tränkt, eine Gegend, in der das Böse immer wieder seine Fratze zeigt.

Während des Zweiten Weltkriegs wurden Tausende von Juden im Donbass ermordet und ihre Leichen in eben diese stillgelegte Kohlenmine geworfen. Nach dem Krieg wurde die Mine mit einem Betonpfropfen verschlossen. Aus den Augen, aus dem Sinn. Aber wie naiv zu glauben, all die Geister dieser Toten würden Ruhe geben, man könne so einfach vergessen. Tausende von Toten in einer Mine, die einst ein grosses Versprechen war, die Reichtum verhiess, mit deren Kohle man die Räder einer prosperierenden Wirtschaft antreiben wollte, in deren Unterhalt sich aber ein Wurm einfrass, der Stollen so unsicher wurde, man sich gezwungen fühlte, die Mine stillzulegen. Eine Mine, die im Unterbewusstsein einer ganzen Gegend wirkt wie ein ewig schlechtes Gewissen.

Und als im Juli 2014 das Passagierflugzeug MH-17 über eben diesem Bergbaudorf von russischen Freischärlern abgeschossen wird, regnet es Frackteile und Tote über einem Dorf, das mit den Auswirkungen des Bösen einmal mehr unfreiwillig in die Mangel genommen wird. Ein Irrtum, denn die Männer, die die Maschine vom Himmel holten, glaubten eine feindliche Transportmaschine im Visier zu haben. Eine Tat, die die russischen Besatzer mit allen Mitteln zu vertuschen versuchen, so wie man damals die Toten im Schacht ¾ stillhalten wollte, eine Tat, bei der fast 300 Unschuldige ihr Leben verloren, darunter 80 Kinder. Unschuldige damals, Unschuldige heute.

Sergej Lebedew «Die Beschützerin», S. Fischer, 2025, aus dem Russischen von Franziska Zwerg, 256 Seiten, CHF ca. 37.90, ISBN 978-3-10-397521-5

Der Roman, der fünf Tage rund um diesen tragischen Abschuss einer Boing 777 beschreibt, mit Rückblenden in die Zeit, als man noch hoffen konnte, die Kohlenmine würde das werden, was man von ihr erhoffte. Eine sterbende Hauptfigur in Sergej Lebedews Roman ist Marianna, die Wäscherin im Dorf. Jene Frau, die alles wieder weiss wäscht. Aber sie ist krank, krebskrank. Und weil sie im Sterben liegt, ist ihre Tochter Shanna zurück ins Dorf gekommen. Ein schwieriger Gang, denn ihre Mutter ist nicht mehr die, die sie einst gewesen war. Als ob all das Böse, dass sie über die Jahrzehnte aus den beschmutzen Stoffen der Menschen waschen musste, den Krebs wie eine Schmutzschicht auf ihre Haut getrieben hätte. Shanna ist nicht nur einfach traurig, sondern enttäuscht, wütend, nicht zuletzt darum, weil die Mutter sie zurück in dieses Dorf gebracht hatte, ein Dorf, von dem sie ahnt, dass das Böse auch sie ereilen will, und weil sie es nicht schafft, den Schmutz von den Laken ihrer Mutter zu waschen.

Zum Beispiel ihr Nachbar Valet, gleich alt wie Shanna, mit ihr aufgewachsen, aber als junger Mann nach Moskau gezogen, um sich am grossen, starken Bruder zu orientieren, um dereinst mächtig zurückzukehren und sich das zu nehmen, von dem er schon ein ganzes Leben überzeugt war, es würde ihm zustehen. Valet lauert auf seine Gelegenheit. Bis ihm eine Leiche im Gestrüpp, eine Tote aus dem Passagierflugzeug MH-17 das bietet, was er glaubt, würde ihm helfen, Shanna auf seine Seite zu bringen.

Vorgesetzter von Valet ist General Korol, ein Veteran aus dem Tschetschenienkrieg, der schon in den 70er Jahren in dieser Stadt als KGB-Offizier diente, die dritte Stimme des Romans, die vierte Stimme die des Ingenieurs, der damals die Kohlemine plante, er ausgerechnet ein Jude.

Man mag Sergej Lebedew vorwerfen, dass er es mit den geschichtlichen Tatsachen und Schauplätzen nicht so genau nimmt. Das kann einem dann stören, wenn man einem Schriftsteller seine Freiheiten verweigert. Wenn man nicht spürt, worum es Lebedew in diesem Roman doch eigentlich geht. Lebedew bündelt all das Böse an einem Ort, an jenem Ort, der bis in die Gegenwart immer wieder zum Totenfeld wurde. Es ist ein Roman über einen ewigen Schmerz. Ein Roman eines Mannes, den dieser ewige Schmerz aus seiner Heimat vertrieb. Ein Roman mit einer mehr als deutlichen Anklage. Starke Worte!

Sergej Lebedew arbeitete nach dem Studium der Geologie als Journalist. Gegenstand seiner Romane sind für den 1981 Geborenen die russische Vergangenheit, insbesondere die Stalin-Zeit mit ihren Folgen für das moderne Russland. Bei S. Fischer sind seine Romane «Der Himmel auf ihren Schultern» (2013), 2Menschen im August» (2015), «Kronos› Kinder» (2018) und «Das perfekte Gift» (2021) erschienen. Zuletzt erschien der Erzählband «Titan oder Die Gespenster der Vergangenheit» (2023). Sergej Lebedew lebt zurzeit in Potsdam.

Franziska Zwerg, geboren 1969, studierte in Berlin und Moskau Slawistik, Germanistik und Theaterwissenschaft und übersetzt zeitgenössische russische Literatur, neben den Romanen von Sergej Lebedew u.a. Werke von Dmitry Glukhovsky, Viktor Martinowitsch, Viktor Remizov.

Beitragsbild © Jane Lezina