Gibt es einen Ort, an dem man sich sicher fühlen kann? Gibt es Menschen, auf die man sich bedingungslos verlassen kann? Oder steckt hinter diesem Wunsch, dieser Vorstellung bloss eine Sehnsucht? Die Sehnsucht des Menschen, während man dauernd und überall loszulassen hat, auf etwas zählen zu können; die Liebe, die Familie, die Religion, das Haus, der Grund, auf dem es steht?
Margret und Gerhard Sandmeier sind seit 25 Jahren verheiratet. Und mit dem Auszug ihres einzigen Sohnes beginnt sich die Geometrie der Familie zu verändern. Mit dem Fehlen des Sohnes wird auch der Anbau des Einfamilienhauses frei. Und man entschliesst sich, das Studio zu vermieten, lieber an einen Mann ohne Haustier und Musikinstrument. Man will nichts riskieren, seine Ruhe haben. Schlussendlich zieht Beat ein, ein stiller, sympathischer junger Mann, Fahrradmechaniker, so alt wie der Sohn. Ein Mann fast wie Sebastian, der Sohn, ein passender Mieter. Ein Mieter, dessen Name zu Beginn wie Programm erscheint, unauffällig, nett, ein Name passend wie angegossen.
Aber alles trügt. So wie Gerhard den Tritt als Geschichtsprofessor, der sich immer mehr abmüht mit der Infantilität seiner ZuhörerInnen, zu verlieren droht, die Mutter Margret die Trennung von ihrem Sohn nicht verschmerzt und auch in ihrer Arbeit nichts von dem findet, was ihr Sohn ihr mit Abweisung und deutlicher Distanzieung zu verstehen gibt. So spitzen sich die Meldungen in den Medien zu über einen Messerstecher, der in der Stadt sein Unwesen treibt. Verunsichert peinigt Margret ein unfassbarer Verdacht. Ein Verdacht, der vom bösen Traum zur Wirklichkeit wird, als das Haus von der Polizei umstellt wird.
Lukas Hartmann schreibt über diese seltsame Entfremdung von den eigenen Kindern, vom eigenen Fleisch und Blut, «ewig» Kinder, die man «ein Leben lang» mit sich trägt, von deren Heldentaten man in Gesellschaft erzählt, gerne beschönt und vergisst, wie wenig man in Wirklichkeit dazu beitrug und es in den Ohren anderer wie Eitelkeit, Hohn oder blanke Lüge klingen kann. Lukas Hartmann erzählt auch von einem Ehepaar, das noch unter der gleichen Decke schläft, Berührungen aber kaum mehr verträgt. Ein Haus, eine Wohnung, einen Sohn, ein Bett teilt, das Leben aber längst nicht mehr. Ein Paar, das sich unlösbar in Missverständnisse verstrickt. Er schreibt darüber, was «Schicksal» mit einem zu tun vermag, wie es einem aus Normalität herauskatapultiert. Lukas Hartmann ist ein Meister der Schilderung. Er lässt einen Kausalteppich wachsen, aus dem es keinen Ausweg zu geben scheint. Er schildert aus der Sicht aller Familienmitgleider, auch aus jener des Sohnes, der sich wandelt vom ewig genervten, endlich befreiten, zum besorgrten, von den Geschehnissen überrannten. Was sich im ersten Teil des Romans liest, wie das Psychogramm einer typischen Kleinfamilie, wird im zweiten Teil zum Höllentripp einer auseinanderbrechenden Schicksalsgemeinschaft.
Lukas Hartmann ist ein scharfer Beobachter, ein Meister der innerfamiliären Inszenierung, ein Ausloter von Grenzüberchreitungen, jener ganz feinen in einer Ehe, jener ganz groben, wenn sich besorgte Bürger verselbstständigen. Was passiert mit einem Verbrechen, einem Verbrechen, das in die Leben vieler unauslöschbar eingreift, nicht nur in das der als Opfer definierten. Ein Buch, das an Spannung nichts zu wünschen übrig lässt.
Lukas Hartmann, geboren 1944 in Bern, studierte Germanistik und Psychologie. Er war Lehrer, Journalist und Medienberater. Heute lebt er als freier Schriftsteller in Spiegel bei Bern und schreibt Bücher für Erwachsene und für Kinder. Er ist einer der bekanntesten Autoren der Schweiz und steht mit seinen Romanen regelmäßig auf der Bestsellerliste. Für ›Bis ans Ende der Meere‹ wurde er 2010 mit dem Sir-Walter-Scott-Literaturpreis für historische Romane ausgezeichnet.
2010 erschien von Lukas Hartmann der Roman «Finsteres Glück». Die Geschichte vom achtjährigen Yves, dessen Leben nach einem schrecklichen Autounfall von seiner Familie weggerissen wird. Eine Psychologin, die dem Jungen über den Verlust hinwegzuhelfen versucht,ist derart erschüttert vom Schicksal des Jungen, dass auch in ihrem Leben und in ihrer Familie nichts mehr bleibt, wie es einmal war. Eine wirklich gelungene Verfilmung!
(Titelbild: Sandra Kottonau)