Felix Schmidt erzählt in „Wie mein Vater Hitler den Krieg erklärte“ aus einer südbadischen Kleinstadt am Rhein. Ein Vater kehrt schon im ersten Kriegsjahr verwundet an Körper, Geist und Seele zurück nach Hause. Aus seiner tiefen Abneigung gegen das NS-Regime macht dieser keinen Hehl, zuhause nicht, auch in der Wirtsstube nicht. Eine Frage der Zeit bis es zur Konfrontation ohne Ausweg kommen wird!
Als im Mai 1945 in Deutschland der Weltkrieg für beendet erklärt wurde, liess sich die Gesinnung eines Kollektivs nicht mit einem Mal von einem Zustand in einen völlig anderen kippen. Wer während mehr als einem Jahrzehnt an ein Tausendjähriges Reich, an die Vorherrschaft einer arischen Rasse und die moralische Verpflichtung glaubte, alles Minderwertige vernichten zu müssen, der konnte sich nicht einfach umpolen, auch wenn Fahnen und Uniformen hastig verbrannt und anstelle der Führerbilder in Wohnungen und Amtsstuben wieder Kreuze aufgehängt wurden. Wie hätte das möglich sein können, eine zur trotzigen Überzeugung gewordene Gesinnung von einem Tag auf den anderen zu löschen, wo man sich doch selbst in den letzten Monaten des Krieges mit weltfremden Durchhalteparolen und dem Glauben an die alles entscheidende Wunderwaffe am erlösenden Endsieg festhielt? Wie hätten es die Siegermächte fertig bringen sollen, in den zerbombten Städten eine zivile Verwaltung einzurichten, wenn man nicht auf jene Kräfte zurückgreifen konnte, die sich unter der Hakenkreuzfahne zu profilieren wussten? Zwar kam es nach dem Ende des Krieges in Nürnberg zu Kriegsverbrecherprozessen. Grosse Namen wie Göring, Hess oder von Ribbentrop wurden hingerichtet oder zu jahrzehntelangen Strafen verurteilt, wenn sie sich nicht feige durch einen Selbstmord der Verantwortung entzogen. Aber viele jener, die sich in den Zeiten des Nationalsozialismus in Städten, Kommunen, in Lagern oder Sonderkommandos schuldig machten, tauchten unter, flohen ins Ausland oder machten in der Nachkriegszeit munter anderorts Karriere.
Felix Schmidt erzählt in seinem Roman „Wie mein Vater Hitler den Krieg erklärte“ aus dem Leben einer ganzen Generation. Mit Jahrgang 33 war Felix Schmidt 12, als die Kapitulation ausgerufen wurde. Felix Schmidt schreibt aus der Perspektive einer Generation, die mehr und mehr wegstirbt. Die Täter von damals sind fast alle tot. Die Opfer von damals erreichen biblisches Alter. Sicher, die Opfer von damals waren Juden, Jenische, Eingeschränkte, Andersdenkende. Aber das Opfer von damals war auch eine Gesellschaft in Geiselhaft, all jene, die sich gegen völkisches Gehabe, gegen Diktatur und Willkür wenn nicht wehrten, dann zumindest leise aufbegehrten. Felix Schmidt erzählt eine solche Vatergeschichte. Keine Heldengeschichte, denn letztlich ist sein Vater nach dem Krieg an den Langzeitfolgen seines Widerstands gestorben. Aber mit seinem Roman erzählt Felix Schmidt die Geschichte jener Kinder, die während des Krieges gross wurden, die mit Faszination den Aufmärschen mit Uniformen, Liedern und strammer Marschmusik folgten, die sich einwickeln und umgarnen liessen und wie der Protagonist im Roman zuhause zwischen die Fronten gerieten; zwischen Führerverehrung und Tischgebet, zwischen Stolz und Mitgefühl, zwischen völkische Gemeinschaft und trotzige Menschlichkeit.
„Wie mein Vater Hitler den Krieg erklärte“ ist weder Heldengeschichte noch Erklärungsversuch. Genau das macht dieses Buch lesenswert. Felix Schmidt versucht noch immer zu verstehen. Nicht zuletzt seinen Vater, der sich sein Wort nie verbieten, der sich nicht einwickeln liess und nur durch Glück der gut organisierten Maschinerie des Tötens entkam. „Wie mein Vater Hitler den Krieg erklärte“ ist die Geschichte eines Mannes, der einen hohen Preis zu zahlen hatte, dem niemand einen Orden verlieh, dem niemand dankte, schon gar nicht das Leben.
So wie wir es in der Gegenwart wieder erleben müssen, dass in Europa ein aggressiver Vernichtungkrieg geführt wird, so werden wir es auch wieder erleben müssen, dass Kriegsgewinnler Kapital aus dem Verderben anderer schlagen werden, dass niemals alle zur Verantwortung gezogen werden können, dass sich die einen geschickt einer solchen entziehen werden und all jene, die mit dem Leben, mit ihrer Existenz, mit einem lebenslangen Trauma zu bezahlen haben, letztlich alleine gelassen werden.
„Wie mein Vater Hitler den Krieg erklärte“ ist ein wichtiges Zeitdokument und schlägt Brücken in die Gegenwart.
Felix Schmidt, geboren 1934, gehört zu den einflussreichsten Journalisten Deutschlands . Als Ressortleiter Kultur des Spiegel, als Chefredakteur der Welt am Sonntag und des Stern sowie als Programmdirektor des Südwestfunks prägte er das publizistische Leben seit den 1970er-Jahren in Deutschland mit. Er war unter anderem Produzent der ersten deutschen politischen Talksendung Talk im Turm und hat die ZDF-Sendung Das Philosophische Quartett ins Leben gerufen. Für sein Buch über die Geschichte des französischen Chansons ist er mit dem französischen Kulturorden Chevalier des Arts et des Lettres ausgezeichnet worden.
© Nele Martensen