Louise Glück «Marigold und Rose», Luchterhand

Marigold und Rose sind Zwillinge. Noch nicht einmal ein Jahr alt und schon mitten im Leben, auch wenn dieses nur aus Zimmer, Haus und Garten besteht. Eine Welt, die langsam aufbricht. Eine Welt, von der die Zwillinge, von der Maigold schon ahnt, dass alles anders sein wird.

Bis zum Nobelpreis war Louise Glück ein Geheimtipp, der Preis für viele eine Überraschung. Aber mit der Verleihung begann die grosse Auseinandersetzung des Publikums mit dem Werk der Lyrikerin, einer ganz eigenwilligen Stimme. Dass „Maigold und Rose“ als letztes Buch vor ihrem Tod im Oktober 2023 erschien, ist nicht nur seltsam, weil es das einzige Prosawerk der Dichterin ist, sondern weil sich die damals fast 80jährige Dichterin in diesem Buch ins Wesen eines Säuglings begibt, in ein Leben, in dem die Sprache noch nicht artikuliert wird, sich alles im Werden begreift. Louise Glück blickt durch die Wahrnehmung eines Kleinkinds auf eine Welt, die sich noch ganz im Kleinräumigen verortet, einer kleinen, in vielerlei Hinsicht paradiesischen Welt, von der die nicht einmal Einjährige ahnt, dass sie dereinst vertrieben wird.

Obwohl Zwillinge, ist vieles an den beiden verschieden. Marigold liebt Bücher, die Rose nicht interessieren. Sie „liest“, auch wenn sich ihr der Sinn der vielen Zeichen in den Büchern noch nicht erschliesst. Aber sie mag die Bilder, Bilder von Tieren. Irgendwann würde sich das Geheimnis der Schrift auflösen. Und dann würde sie selbst zu schreiben beginnen, Bücher schreiben. Die Bestimmung ihrer Schwester Rose ist es, brav zu sein, angepasst. Sie sind Schwestern, Zwillinge, und doch fühlt sich Marigold einsam, ausgeschlossen vom Leben ihrer Schwester, sehr oft auch von der Zuwendung ihrer Mutter. Marigold spürt, dass Rose bei der Mutter an erster Stelle steht, dass Rose für ihre Artigkeit, ihre Angepasstheit bevorzugt wird. Da hilft auch die Liebe ihres Vaters nicht viel.

Louise Glück «Marigold und Rose», Luchterhand, aus dem amerikanischen Englisch von Eva Bonné, 2024, 64 Seiten, CHF ca. 27.90, ISBN 978-3-630-87769-3

„Eigentlich waren die Zwillinge ein Baby, nur eben zweigeteilt. Ich bin ein halbes Baby, dachte Maigold. Ich bin das Hirn, und Rose ist das Herz.“ So sehr Marigold sich in Gedanken schon in ihrem eigenen Buch verstrickt, so sehr empfindet sie damit die wachsende Distanz zur Welt, zu ihrer Schwester, zu Mutter und Vater. Kein Wunder beginnt Rose früher zu sprechen als sie, ist ihr Blick doch viel mehr nach Innen gerichtet. „Rose lernte zu sprechen, und Marigold lernte zu beobachten.“ Vielleicht liegt die Bestimmung der beiden Mädchen schon in ihren Namen. Rose ist die, die zu verzücken weiss. Und Marigold, bei uns besser bekannt unter dem Namen Ringelblume, ist jene, die ihre Werte in ihrer indirekten Wirkung sieht – nicht zuletzt als Heilpflanze.

Legt man die Erzählung „Marigold und Rose“ über das Leben der Autorin, drängen sich gewisse Interpretationen auf. „Marigold und Rose“ ist viel mehr als ein kleines Kunstwerk einer grossen Dichterin. Vielleicht ist diese kleine Erzählung ein Schlüssel zum Urschmerz der Autorin. Vielleicht eine Erklärung dafür, was später aus ihrem Leben wurde. Aber ebenso verschliesst sich die Autorin. Am Ende eines Lebens schreibt die Nobelpreisträgerin eine kleine Erzählung über ein Mädchen vor der Zeit des Erinnerns. Schreiben ist immer Erinnern. Vielleicht sucht auch die Autorin mit dieser Erzählung.

„Marigold und Rose“ ist voller Vielleicht. Eine schillernde Erzählung voller Ahnungen. Ein Text, der mich zur Reflexion zwingt, tragen wir doch alle einen Zwilling mit uns herum, jenes gespiegelte Ich, die andere Seite, den anderen Weg. „Marigold und Rose“ ist kein Vermächtnis, aber der Beweis, dass das Schreiben über Grenzen hinaus erzählen kann.

Louise Glück, geboren 1943 in New York, veröffentlichte dreizehn Gedichtbände, zwei Essaysammlungen und ein Prosakurzstück. 2020 wurde sie ausgezeichnet mit dem Literaturnobelpreis «für ihre unverkennbare poetische Stimme, die mit strenger Schönheit die individuelle Existenz universell macht». Für ihre Werke erhielt sie u. a. auch den Pulitzerpreis, den Bollingen Prize, den National Book Award und die Gold Medal for Poetry from the American Academy of Arts and Letters. Sie lehrte an der Yale und der Stanford University. Louise Glück starb am 13. Oktober 2023 im Alter von 80 Jahren.

Eva Bonné übersetzt Literatur aus dem Englischen, u.a. von Rachel Cusk, Anne Enright, Michael Cunningham und Abdulrazak Gurnah. Sie wurde mit dem Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Preis ausgezeichnet.

Beitragsbild ©  Katherine Wolkoff

Abdulrazak Gurnah «Nachleben», Penguin

Der 2021 mit dem Literaturnobelpreis gekürte Abdulrazak Gurnah schrieb mit seinem Roman „Nachleben“ ein Panorama einer Familiengeschichte, eines Stücks Kolonialgeschichte und erweist sich als brillanter Geschichtenerzähler, dem man gebannt bis in die feinsten Verästelungen folgt.

„Nachleben“ ist die Geschichte zweier Askari, jenen einheimischen Soldaten, die sich im 20. Jahrhundert in den Dienst ihrer Kolonialmächte stellten und sich als „Schutztruppen“ in Afrika als elitär und privilegiert sahen, obwohl die meisten von ihnen im Kampf umkamen, an Krankheiten und Entbehrungen starben, desertierten und verschwanden.

Ilyas ist noch ein Kind, als er sein Zuhause in Ostafrika verlässt, in eine deutsche Missionsschule gerät, dort Lesen und Schreiben lernt und schlussendlich in den Dienst eines Kaufmanns gestellt wird. Aber Ilyas, der sich der deutschen Sprache mehr als verbunden fühlt, lässt sich in den Wirren zu Beginn des ersten Weltkriegs in Afrika zu eben diesen Schutztruppen anheuern, obwohl er eine kleine Schwester, die einzig Übriggebliebene seiner Familie in der Obhut jenes Kaufmanns zurücklässt. Ilyas wird Soldat, ein Askari und taucht trotz seines Versprechens an seine kleine Schwester nie mehr auf. Afyia wächst als Zurückgelassene auf, führt ein Schattendasein im Haushalt des Kaufmanns, von dessen Frau mit Argwohn beobachtet und drangsaliert.

Abdulrazak Gurnah «Nachleben», Penguin, aus dem Englischen von Eva Bonné, 2022, 384 Seiten, CHF 37.90, ISBN 978-3-328-60259-0

Hamza kehrt als Verwundeter aus dem Krieg an der afrikanischen Front zurück. Als Askari gelang es ihm nur knapp, dem Gräuel, dem Tod zu entkommen. Lebensgefährlich verletzt wird er weitab vom kriegerischen Geschehen von einem deutschen Missionarenpaar gesund gepflegt, bevor er Jahre später verunsichert, scheu und traumatisiert an jenen Ort zurückkehrt, der einst sein Zuhause war. Er findet neben Arbeit bei eben jenem Kaufmann auch dessen Vertrauen. Nicht nur weil er lesen und schreiben kann und Deutsch versteht, sondern weil Hamza in seiner vertrauensseligen, ruhigen Art den unruhigen Kaufmann zu faszinieren versteht. Hamza wird zu einer Stütze in den vielfältigen Geschäften des Kaufmanns und lernt die junge Frau kennen, die wie ein Schatten im Haus seines Patrons wohnt.

Hamza und Afyia werden ein Paar. Und obwohl beide nichts als nur sich selbst besitzen und nichts in ihrem Leben in Richtung Glück zeigt, gewinnen die beiden immer mehr das Vertrauen ihres Umfelds, ziehen nach der Heirat gar ins Haus des Kaufmanns und gründen nach schmerzhaften Fehlgeburten eine kleine Familie. Der kleine Junge heisst Ilyas, so wie der verschollene Bruder seiner Mutter. Ein Umstand, der den Verschollenen in Erinnerung halten soll, so wie die Hoffnung, er würde dereinst doch noch auftauchen. Aber mit dem Namen legt sich auch ein „böser“ Geist auf den kleinen Jungen, der sich immer mehr in sich zurückzieht und von einer Stimme heimgesucht wird. Irgendwann wird klar, dass Hamza sich darum bemühen muss, nach Klarheiten um das Verschwinden seines Schwagers zu suchen, um Ruhe in seine Familie zu bringen. Aber erst als der junge Ilyas, mittlerweile selbst erwachsen zu Weiterbildungen in Deutschland unterwegs sich für seine Familie auf die Suche nach seinem gleichnamigen Onkel macht, kehrt jene ersehnte Ruhe in die Familie von Hamza und Alyia ein.

Was am Roman des Nobelpreisträgers fasziniert, ist seine Sicht auf die Geschichte, sein Erzählton und wie er mit Akribie bis in die feinsten Verästelungen hineinerzählt. Was unter Kolonialisierung auf den verschiedensten Kontinenten in den vergangenen Jahrhunderten Länder, Völker, Schicksale zerriss, ist von keiner dieser Kolonialmächte mit Ernsthaftigkeit und den entsprechenden Konsequenzen aufgearbeitet worden. „Nachleben“ ist ein Nachbeben. Er erzählt von einem gewaltsamen und blutigen Stück Geschichte, das viel zu wenig ins Bewusstsein Europas eingedrungen ist und viel lieber verdrängt wird. Abdulrazak Gurnah erzählt ohne Verurteilung, ohne Groll. Nicht einmal den Schrecken des Krieges schildert er so, wie man ihn der Geschichte entsprechend hätte schildern können, brutal und vernichtend. Abdulrazak Gurnah konzentriert sich auf die Verwundungen der Seele. Dass jede Grausamkeit ein Nachleben hat, eines, dem man sich stellen muss. 

Und dann diese Meisterschaft bis ins Kleinste. Abdulrazak Gurnah beschreibt ein Panorama, aber stets mit der Perspektive hinein in das Kleine, Feine, ohne dass er das Innenleben seiner Protagonistïnnen aufbläht. Selbst Gefühle zeichnet er durch die feinen Beschreibungen ihres Tuns. Mag sein, dass man seinen Erzählstil etwas altmodisch empfindet. Für mich schreibt da einer mit grösster Sorgfalt und unendlichem Respekt für sein Personal.

Abdulrazak Gurnah (geb. 1948 im Sultanat Sansibar) wurde 2021 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet. Er hat bislang zehn Romane veröffentlicht, darunter «Paradise» (1994; dt. «Das verlorene Paradies»; nominiert für den Booker Prize), «By the Sea» (2001; «Ferne Gestade»; nominiert für den Booker Prize und den Los Angeles Times Book Award), «Desertion» (2006; dt. «Die Abtrünnigen»; nominiert für den Commonwealth Writers› Prize) und «Afterlives» (2020; dt. «Nachleben»; nominiert für den Walter Scott Prize und den Orwell Prize for Fiction). Gurnah ist Professor emeritus für englische und postkoloniale Literatur an der University of Kent. 

Eva Bonné, 1970 geboren, studierte amerikanische und portugiesische Literaturwissenschaft in Hamburg, Lissabon und Berkeley. Seither übersetzt sie Literatur aus dem Englischen, unter anderem von Rachel Cusk, Anne Enright, Michael Cunningham und Abdulrazak Gurnah. Sie lebt in Berlin.

Beitragsbild © Anna Weise