Tell setzt sich an einen Tisch im Schiffsbauch. Trotz Kapuze ist ihm der Fahrtwind an diesem wolkenverhangenen Septembertag kurz nach Isleten zu kalt geworden. Vielleicht wäre es klüger gewesen, in Altdorf zu bleiben. Hier drin riecht es nach Flammkuchen und Kaffee, doch für seinen Rücken ist die angestaute Wärme sicher besser. Am Tisch nebenan malt ein Kind mit Farbstiften und singt vor sich hin. Er muss auf sich achten und beweglich bleiben, mit blockiertem Rücken ist nichts zu gewinnen, weder eine Verhandlung, noch ein Krieg, noch persönlicher Friede. Um all das geht es heute, und natürlich geht es um Freiheit, immer wieder geht es um Freiheit. Alle reden davon, und viele wollen frei sein. Ihm geht es um Verantwortung, so viel ist ihm inzwischen klar geworden. Der See lässt ihn für einmal nicht handeln, sondern nachdenken. Er gilt als Rebell, dabei hat er an Gelassenheit gewonnen. Schon wieder dieses Wort, gewonnen. Er hat sich nie als Anführer gesehen. Das wurde ihm auch schon als Feigheit ausgelegt. Freiheit und Führung passen nur für kurze Zeit zusammen, ist seine Erfahrung.
«Es ist Zeit, deine Waffe weiterzugeben», diese kurze Botschaft hat er vor zwei Tagen erhalten. Wer bin ich, dass ich jetzt in diesem Schiffsbauch sitze, unterwegs zu einem Geheimtreffen? fragt sich Tell. Der Gipfel des Niederbauen schaut aus den Wolken, wie ein Felsbrocken der auf einem Wolkenband schwebt, ein grauer Kopf unter einem blauen Stück Himmel. Wer bin ich? Vor Jahren hat er mit seiner Waffe einen Gewaltherrscher umgebracht. Seither lebt er mit seiner Tat. Als Held, angeblich. Die Waffe hat er noch eine Zeitlang zur Jagd von Wild gebraucht. Das hat nicht verhindert, dass seine Waffe zum Symbol geworden ist, zum Symbol für Widerstand, für gerechtfertigte Gewalt gegen Gewalt, für…, ja, für viele Deutungen ist sie dienlich. Nun soll er sie weiterreichen, andernorts würde sie gebraucht, so heisst es. Er hat sich zu einem geheimen Gespräch bereit erklärt. Doch jetzt auf dem Schiff unterwegs zu diesem Treffen kreisen seine Gedanken, ohne an ein Ziel zu finden. Ist es Eitelkeit? Selbstüberschätzung? Die Waffe lagert zuhause in einem abgeschlossenen Schrank. Soll sie dort bleiben? Als Symbol?
Das Treffen kann er nicht mehr absagen, aber er wird keine abschliessende Antwort geben. Er muss die Sache mit Hedwig besprechen. Das wird seine Antwort sein: Ich muss das mit Frau und Kindern klären. Tell ahnt, was Hedwig sagen wird.
Jürg Rechsteiner, geb. 1956, lebt in St. Gallen. Schriftsteller und Jurist. Zuletzt Lyrikveröffentlichungen, u.a. in orte Verlag Poesie Agenda. Roman «Halbland», mehrere Hörspiele bei Radio SRF.
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