Jess Jochimsen «Abschlussball», dtv

Marten, noch jung und doch schon alt, ist Musiker, Friedhofstrompeter im Anzug für Musik am Abgrund. Friedhofsmusiker nicht aus Berufung, mehr weil er einfach dort hingespült wurde. An den einzigen Ort, der dann doch beweist, das alle Menschen gleich sind. An jenen Ort, an dem mit einem Mal alle Bewegung gebremst wird.

Vielleicht war es der Zufall, dass Marten eines Tages am Grab eines ehemaligen Klassenkameraden spielen sollte. Vielleicht genauso ein Zufall, dass Sonia immer wieder auf dem Friedhof auftaucht. Eine jener Sonderbaren, die auf dem Friedhof nicht die ewige, so doch die vorläufige Ruhe suchen. Auch Sonia war einst aus der selben Klasse. Bis Klassenkamerad Wilhelm eines Tages verschwand, untertauchte und nun, Jahre später, als Leichnam zurückkehrt. Marten findet die Bankkarte seines verstorbenen Klassenkameraden Wilhelm. Eine Spur, die ihn dorthin zurückbringen soll, wo Wilhelm und sein Leben zu knicken begannen.

Jess Jochimsen beschreibt das Leben eines Sonderlings, der schon mit zwölf Jahren vor Erschöpfung zu kapitulieren droht und noch vor dem Abitur die ersten grauen Haare bekommt. Martens Mutter verunglückt tödlich. Der Grossvater unter dem gleichen Dach wird vom Krebs weggefressen. Sein Vater verliert die Arbeit und tröstet sich mit dem Fernsehprogramm. Und Martens Bruder stürzt sich in die Welt des Zwielichts. Bloss Martens Schwester scheint die einzige, die den Boden unter den Füssen nicht verliert. All das ist viel und nicht unbedingt das, was Erfolg verspricht. Marten beginnt eine Lehre in der Stadtbibliothek, versucht sich in einem beschaulichen Leben oder zumindest dem, was er sich darunter vorstellt. Nur die Trompete gibt seinem Leben eine Stimme, eine unüberhörbare, selbst dann, wenn er auf dem Friedhof für die Toten und viel mehr für die Hinterbliebenen spielt.

Die Beschreibungen darüber, wie Marten zu einem Sonderling wird und wie er sich in seinem Tun und Lassen eines solchen eingräbt oder auch vergisst, ist höchst amüsant zu lesen. Wie leicht vergisst man! Jeder sucht seinen Platz, im Leben, in der Gesellschaft. Dass diese Suche mitunter erfolglos sein kann, vergisst jener, der am Sonntag auf der Hollywoodschaukel ein Buch lesen kann, allzu leicht. Marten taucht, ziemlich tief. Obwohl er tapfer das Leben eines Jugendlichen und Erwachsenen zu führen versucht. Erstaunlich genug, dass ein Entertainer, Tausendsassa und TV-Mann wie Jess Jochimsen einem stillen Eigenbrötler so nahe kommen kann wie in diesem Roman. Marten wird zum Sonderling, weil ihm das Talent zur Anpassung an Modeströmungen fehlt. Irgendwann kollabiert das System Marten. Und nur mit Hilfe seiner Trompete, der Musik, eines Buches mit dem Titel «Eine unvollständige Geschichte der Begräbnisvioline» (ein real existierendes Buch!) und der Bankkarte seines ehemaligen Klassenkameraden macht sich Marten auf den verschlungenen Weg zurück in sein Leben.

Der Roman ist nur schon deshalb lesenswert, weil nicht nur Martens Geschichte erzählt wird, sondern Geschichten von all jenen Sonderlingen um ihn herum, die sich im Soziotop Friedhof bewegen; Sebastian, der Geiger in Gehrock und Zylinder, Jensen, der Paternostermacher oder Berger, der unter seinen angestellten Friedhofsmusikern immer wieder einmal einen «Abschlussball» organisiert. Aber eben ein ganz anderes Fest als jenes, nachdem Martens Schulkamerad Wilhelm, den man nun mit viel Pomp zu Grabe trägt und eigentlich doch ein Gescheiterter war, in die Zukunft abtauchte.

Fünf Fragen an Jess Jochimsen

Ihr Roman ist die Geschichte eines Sonderlings. «Abschlussball» ist die Geschichte eines jungen Mannes, für den es auf dieser Welt keinen Platz zu geben scheint. Das Leben eines erfolgreichen Kabarettisten, Künstlers und «TV-Menschen» scheint wenig Schnittflächen mit dem eines Sonderlings zu haben. Trotzdem machen sie einen solchen zu ihrem Helden. Wie viel Sonderling steckt in ihnen?
O, das täuscht, „erfolgreich“ ist doch sehr relativ und so selten wie ich im Fernsehen auftreten darf, bin ich doch weit weg vom Leben eines „TV-Menschen“. Die überwiegende Zeit verbringe ich ziemlich zurückgezogen und mit dem Feilen an den Geschichten beschäftigt, die ich erzählen will. Kurz: Ich fürchte, in mir steckt mehr „Sonderling“ als mir lieb ist.

Ein wichtiger Schauplatz in ihrem Roman «Abschlussball» ist einer der Friedhöfe Münchens. Friedhöfe sind besondere Ort. Solche in grossen Städten sowieso. Nach der Lektüre ihres Romans habe ich geschworen, bei meiner nächsten Reise in eine grosse Stadt deren Friedhöfe zu besuchen. Wie kam es zu ihrer «Faszination Friedhof»?
Diese Faszination habe ich schon lange. Warum, kann ich gar nicht mit Bestimmtheit sagen. Ich fand schon als Kind, dass Friedhöfe spannende und „gute“ Orte sind, war dort oft, um meinen früh verstorbenen Großvater „zu besuchen“ und gehe auch heute noch oft dorthin. Einfach so. Es herrscht eine schöne Mischung aus Ruhe und Geschäftigkeit, die Pflanzenpracht und der Vogelbestand sind eine Wucht … und mal ganz abgesehen davon, bin ich überzeugt: So wie wir trauern, leben wir auch.

Eine wichtige Nebenrolle in ihrem Roman spielt das Buch von Rohan Kriwaczek «Eine unvollständige Geschichte der Begräbnisvioline». Damals, als ich das Buch kaufte, weil ich nur schon vom Titel fasziniert war, erlosch die Begeisterung schnell wieder. Ganz offensichtlich muss die Begeisterung für Musik und im Speziellen für Begräbnismusik bei ihnen gross sein. Wo liegt der Ursprung?
Mir ging es anfangs ähnlich. Ich kam mit dem akademischen Stil Kriwaczeks erst gar nicht zurecht … aber mir war von Anfang an klar, dass dieses Buch der Schlüssel zu einer Geschichte ist. Was die Musik angeht: Ich mache Musik, ich höre Musik, ich wäre gerne Profi-Musiker geworden. Musik ist – neben Fußball – eine der beiden Sprachen, die man wirklich überall auf der Welt versteht … Auf den Punkt gebracht: Bei mir ist Musik nicht nur Begeisterung, es ist Liebe!

Marten fällt es schwer, seinen Platz im Gefüge, in der Gesellschaft zu finden. Ihr Roman ist eine Liebeserklärung an alle Sonderlinge, von denen es immer weniger zu geben scheint. Oder sind sie nur gut versteckt oder gar versorgt in Institutionen?
Ja. Eine Liebeserklärung an die Sonderlinge, an die Menschen, die nicht überall mitmachen und dabei sein müssen, an die, die verschlungenste Wege gehen. Ich weiß es nicht, ob es weniger von ihnen gibt als früher oder ob sie besser versteckt sind, mag sein. Kein Grund, nicht von ihnen zu erzählen. Oder anders formuliert: Vielleicht kann man sie nicht immer finden, aber „er“finden schon.

Sie sind ein vorzüglicher Beobachter mit einem speziell geschulten Auge. Das beweisen nicht nur ihr Roman, sondern auch ihre Fotos und die feinen Pointen in ihren Bühnenprogrammen. Ist es die Aufgabe des Künstlers und Konsumenten ein Auge zu sein?
Ich bin überzeugt davon, dass Kunst immer sehr viel mit Beobachten zu tun hat. Hinschauen, hinschauen, immer wieder hinschauen. Ob das meine Aufgabe ist? Keine Ahnung. Ich bin neugierig. Und ich staune gern. Und spinne an diesen Beobachtungen weiter …

Vielen Dank für das Interview!

Jess Jochimsen, 1970 in München geboren, studierte Germanistik, Politikwissenschaft und Philosophie und lebt als Autor und Kabarettist in Freiburg. Seit 1992 tritt er auf allen bekannten deutschsprachigen Bühnen auf. Seit 2006 ist er Gastgeber der ›SWR-Poetennächte‹. In seiner Freizeit fotografiert er traurige Dinge, um diese dann als Dias vorzuführen oder Bücher damit zu bebildern. Bei dtv erschien 2000 sein Debüt ›Das Dosenmilch-Trauma‹. Es folgten ›Flaschendrehen‹ (Erzählungen), ›DanebenLeben‹ (Bildband), ›Was sollen die Leute denken‹ (Monolog), ›Krieg ich schulfrei, wenn du stirbst?‹ (Erzählungen), ›Liebespaare bitte hier küssen‹ (Bildband) sowie der Roman ›Bellboy‹, der Christian Lerch zu seinem Kinofilm ›Was weg is´, is› weg‹ inspirierte. Seine CDs erscheinen bei WortArt.

Titelfoto © jess jochimsen

Graham Swift «Ein Festtag», dtv

Wo sind die Momente im Leben, die alles ausmachen, alles entscheiden? Welches sind die wirklich wichtigen Geschichten, die man alt und greise vor seinem Tod erzählt oder mit sich ins Sterben nimmt? Jane Fairchild ist über 90, müde vom Rummel und unzähligen Interviews, fast sicher, dass sie als Frau des 19. Jahrhunderts im nahenden Jahrtausend nicht mehr Gast sein wird.

Dreimal geboren. Das erste Mal 1901 als Findelkind vor die Türe eines Waisenhauses gelegt. Zum zweiten Mal am Muttertag, dem 30. März 1924, zwischen zwei Weltkriegen. Und zum dritten Mal, als man ihr eine alte, ausgediente Schreibmaschine schenkt und sie zur Schriftstellerin wird.

Jane erzählt von diesem einen, schicksalshaften Tag, einem Märzsonntag 1924. Damals war sie Dienstmädchen bei den Beechwoods und verliebt in den nach dem 1. Weltkrieg einzig «übriggebliebenen» Spross Paul. Jane erzählt eine Geschichte, die man nicht so einfach und schon gar nicht jedem erzählt. Nicht einmal dem Mann, mit dem sie Jahre später lange verheiratet war, schon gar nicht einem den von ihr geschriebenen Romane und damit all den Leserinnen und Lesern, die sie, wenn auch nicht nacherzählt, an ihrem Leben teilhaben lässt. Damals an jenem 30. März, zwei Wochen bevor ihr Geliebter Paul seine Verlobte Emma standesgemäss heiraten sollte, liegen Jane und Paul dieses eine Mal nackt in Pauls Zimmer, allein in einem grossen Haus, weil sämtliches Personal an diesem Muttertag frei bekommen hatte. Was nach Zufälligkeit aussieht, ist der Moment der zweiten Geburt. Damals, Paul war schon weggefahren, schwebt Jane immer noch nackt durch das grosse Haus ihres Geliebten. Während Paul bei einem Selbstunfall in seinem Auto verbrennt, wandelt sie wie Gott sie erschuf durch die Zimmer des riesigen Hauses, in die Bibliothek, über Treppen, in die Küche. Als würde sie eine noch fremde Welt in Besitz nehmen, flügge werden, ein Leben als Waise und Dienstbotin abstossen. Aber dieser eine Tag brennt sich ein, in alles, was an den folgenden Tagen im Leben Janes und im Leben der Schriftstellerin entscheidend sein wird. Dieser eine Tag wird alles Tun und Schreiben durchtränken, unauslöschlich. Nicht bloss diese wenigen unvergesslichen intimen Stunden im lichtdurchfluteten Zimmer ihres Geliebten, sondern ein ganzes Leben, hinauskatapultiert in die Tragödie, nackt, während die Uhren auch nach der Katastrophe weitertickten.

Der schmale Roman des Engländers Graham Swift leuchtet in das Geheimnis einer alten Frau, einer Schriftstellerin, die genau weiss, dass es Brüche sind, die einen aufbrechen lassen. Graham Swift schildert aber nicht nur die leidenschaftliche Liebesgeschichte einer 23jährigen Dienstmagd. Graham Swift erzählt von den Initialzündungen des Schreibens, dem Finden einer eigenen Sprache, der Entdeckung der eigenen Kreativität. Ein Abenteuer, das 1924 nicht der Normalfall einer Frau in Europa war. «Ein Festtag» ist ein Roman über das Schreiben, das Erzählen. Ganz am Schluss seines Romans schreibt Graham Swift: «Es ging darum, dem, was das Leben ausmachte, treu zu sein, zu versuchen, genau das einzufangen, was Lebendigsein bedeutet, obwohl das nie gelang. Es ging darum, eine Sprache zu finden. Und es ging darum … der Tatsache treu zu sein, dass viele Dinge im Leben, oh, so viele mehr als wir uns vorstellen, nie erklärt werden können.»

«Ein Festtag» von Graham Swift ist eine Perle.

Graham Swift, geboren am 4. Mai 1949 in London, arbeitete nach dem Studium in Cambridge und York zunächst als Lehrer. Seit seinem Roman «Waterland», der mit Jeremy Irons verfilmt wurde, zählt er zu den Stars der britischen Gegenwartsliteratur. «Letzte Runde» wurde 1996 mit dem Man Booker-Prize ausgezeichnet und, hochkarätig besetzt, von Fred Schepisi verfilmt. Swift favorisiert unzuverlässige Erzähler, die den Funktionen der Erinnerung und der Verknüpfung persönlicher Erinnerung mit zeit- und weltgeschichtlichen Ereignissen auf den Grund gehen – das Ergebnis sind psychologisch Glanzstücke von äußerster Raffinesse.

Bild: Sandra Kottonau

Hannah Dübgen «Über Land», dtv

«Dein Herz ist dort, deine Füsse sind hier» – dieses Zitat trifft ein wichtiges Thema des Buches: Wo gehört man hin? Wie lebt es sich in der Fremde? Was zieht einen zurück in die Heimat? Und wie geht man mit dieser Situation um?

In Berlin begegnen sich bei einem Beinahe-Unfall zufällig Amal, eine auf Asyl wartendende Archäologie-Studentin aus dem Irak, und Clara, eine junge Ärztin aus Berlin. Diese Begegnung führt in den kommenden Wochen zu schüchternen Treffen, Gesprächen und einer beginnenden Freundschaft. Dem Leser wird das Leben von Amal im Irak sowie ihre Gründe für die Flucht auf eine sachliche, eindrucksvolle und trotzdem tiefgehende Weise nahe gebracht, die jedoch nie anklagend wirkt. Eher würdevoll und doch neutral.
9783423280945Claras Leben zwischen der Berliner Klinik und ihrem Lebensgefährten Tarum, einem Architekten aus Indien, spiegelt die Zerrissenheit der jungen Frau wieder. Sie sucht im Umgang mit ihrem Partner die Balance zwischen Nähe, Distanz und Selbstverwirklichung. Tarum erhält die Chance, nach erfolgreichen Jahren in Deutschland, ein Projekt in der Nähe seiner Heimatstadt in Indien zu betreuen und stellt die Beziehung mit Clara auf die Probe.
Als Amals Grossmutter im Irak stirbt, fährt Clara an ihrer Stelle nach Bagdad und taucht in die bis dahin gehörte Geschichte ein.

Hannah Dübgen versteht es, die Geschichte aus unterschiedlichen Perspektiven zu beschreiben, wodurch man als Leser immer wieder neu gefordert wird. Die Geschichte nimmt ihren Lauf und setzt sich aus der unterschiedlichen Sichtweise immer weiter fort. Die Sprache berührt und saugt einen auf in die Geschichte, die unterschiedlichen Kulturen und Gedanken. Alles ohne Anklage zur Flüchtlingsthematik, sondern mit Achtung und Respekt. Und dem Nachhall zum Nachdenken, zum Überlegen, zum neu sortieren und bewerten.
«Vielleicht soll man den Menschen einfach das Recht auf Ihre Geschichte lassen.»

Ein tolles berührendes Buch mit vielen unterschiedlichen Facetten und einem stimmigen Gesamtbild. Ich freue mich auf weitere Bücher von Hannah Dübgen.

Mirja Grajer, 4.11.2106

 

5474Hannah Dübgen wurde 1977 geboren. Sie studierte Philosophie, Literatur- und Musikwissenschaft in Oxford, Paris und Berlin. Sie arbeitete für Schauspiel und Musiktheater, und schrieb die Libretti mehrerer international erfolgreicher Opern. Ihr Debütroman «Strom», ausgezeichnet mit Preisen der Landeshauptstadt Düsseldorf und des Literaturfestivals von Chambéry, erschien 2013 bei dtv.

Webseite zur Autorin

Brugger Literaturtage 2016: Ursula Fricker «Lügen von gestern und heute», dtv

logogebilde16Die Brugger Literaturtage sind besondere Tage, besondere Literaturtage! Wo werden Bücherfreunde wirklich eingeladen? In Brugg! Dort lässt man seine Gäste höchstens für die Räucherwurst mit Kartoffelsalat anstehen, aber nicht für des Fest im Literaturstädtchen Brugg. Die Stadt gönnt sich den Luxus eines stadteigenen Bücherfests, organisiert durch die Vereine Salzhaus und Odeon.

Ganz im Gegensatz zu vielen anderen, viel grösseren Kulturstädten, in denen ehrenamtlich arbeitende Vereine bei den Vorbereitungen zu einem Literaturfestival um jeden Franken betteln müssen! Peinlich dann, wenn sich solche Städte gar Buchstadt nennen. So verwundert es nicht, dass Brugg im Licht dieses Festivals leuchtet, das man mit viel Selbstbewusstsein und Tradition jedes Jahr im Wechsel mit der Partnerstadt Rottweil zum Blühen bringt, seit über 30 Jahren!

Neben Dana Grigorcea, Jonas Lüscher, Franz Dodel, Vera Schindler-Wunderlich, Reinhard Jirgl, Inka Parei, Andrei Mihailescu und Teresa Präauer war auch die in Berlin lebende Schaffhauserin Ursula Fricker mit ihrem Roman «Lügen von gestern und heute» (32. Literaturblatt!) Gast in Brugg. In ihrem vierten Roman, dem ersten, der sowohl in seiner Thematik wie in seinen Perspektiven weit über img_0065-1die bisher erschienen Romane hinausgeht, sind es Brüche, die die Autorin miteinander verwebt. Jener von von der jungen Isa, die mit der Familie bricht, getrieben nun endlich mit ihrem Leben Wirkung zu erzeugen. Jener von Beda, die mit ihrer Flucht aus dem Kaukasus mit ihrer Vergangenheit brach und im «neuen» Leben, in der neuen Stadt, im neuen Land wieder zum Abbrechen gezwungen wird; von ihrer Liebe, von ihrem wirklichen Selbst. Und jener von Innensenator Otten, der all die Brüche in seiner Vergangenheit spürt und jenen als Politiker, Vater und Ehemann, jenen, der ihn mit einem Mal einsam werden lässt. Ursula Fricker versteht es, viel Nähe zu den Protagonisten zu erzeugen, auch wenn der Eindruck aufkommen kann, die Autorin hege nicht gleichmässig Sympathien für jeden ihrer Protagonisten. Warum sollte sie auch! Beda verkörpert Wahrhaftigkeit, Otten die guten Seiten hinter allen Fassade, und Isa all jene, die mit grossen Idealen die Selbstreflexion, den Zweifel verlieren. «Lügen» im Titel, weil sie nicht einfach bloss schlecht sind. Fast jeder braucht sie, um sich aufrecht im Leben halten zu können.

5286Ursula Fricker, geboren 1965 in Schaffhausen. Sie lebt heute in der Nähe von Berlin. Tätig in der Theaterpädagogik und Sozialarbeit, arbeitete als freie Journalistin, u.a. für die SZ am Wochenende und den Freitag.
2004 Einzelwerkpreis der Schweizerischen Schillerstiftung, 2012 nominiert für den Schweizer Buchpreis, u.a. «Das letzte Bild» (2009), «Ausser sich» (2012), «Lügen von gestern und heute» (2016).

Ursula Fricker liest an der Schaffhauser Buchwoche!

Rebecca West «Die Rückkehr», dtv

Mit 26 Jahren schrieb die Britin Rebecca West 1918 als erste Frau einen Roman über die Schrecken des ersten Weltkriegs, ihr Debüt. Nicht über jenen Krieg, der Tausende in die Schützengräben von Verdun schickte, sondern jenen, den er in die Seelen der Männer brachte, die mit wehenden Fahnen in den Krieg zogen, um als Verwundete, Versehrte, Zerstörte und Tote nie mehr ganz zurückzukehren.

Zwei Frauen warten während des ersten Weltkriegs unter demselben Dach auf Zeichen desselben Mannes. Kitty auf die ihres Mannes und Jenny auf jene ihres Cousins. Ein langes und banges Warten. Bis auf dem Landgut der Baldrys eine Frau erscheint und behauptet, sie wisse, wie es diesem einen Mann gehe und wo er sei, nicht verletzt, aber versehrt – ein Granatentrauma. Die beiden wartenden Frauen glauben zuerst, einer Schwindlerin gegenüberzusitzen, bis ihnen klar wird, dass ihr Gegenüber mehr als eine Botin ist. «Eine abstossende Aura von Vernachlässigung und Armut umgab sie, so wie selbst ein teurer Handschuh, wenn er in einem Hotel hinter ein Bett gefallen ist und ein, zwei Tage lang ungestört dort gelegen hat, abstossend wirkt, wenn das Zimmermädchen ihn aus Staub und Flusen wieder hervorzieht.» Chris kehrt zurück. Aber was fortan auf dem von Chris voller Enthusiasmus renovierten Landgut herumgeistert, will nicht mehr der sein, der er einst war, als er mit dedie_rueckkehr-9783423280808m Zuruf «Bis dann! Ich schreibe euch aus Berlin!» in den Krieg fuhr. Der Krieg, das Pfeiffen der Granaten, das Warten auf den Einschlag, all die Toten riss einen Teil seiner Seele aus ihm heraus – und mit ihr 15 Jahre seiner unmittelbaren Vergangenheit. Plötzlich existiert keine Ehefrau mehr, nicht einmal mehr das durch eine Krankheit dahingeraffte Kind. Stattdessen ist da diese Frau, die die Botschaft brachte, eine von Mühsal, Arbeit und Einerlei gezeichnete Frau, Margaret, die Chris vor 15 Jahren liebte und die einzige zu sein scheint, die den versehrten Chris am Leben hält.
Das Aufeinanderprallen zweier Welten, jene des gottgewollten Reichtums, der Bourgeoisie und jener der ewig von Verlust und Lebenskampf bedrohten Arbeiterklasse, genau jene Gegensätze, die den Krieg damals ausmachten, der um sie und zwischen ihnen tobte.
Dass diese Geschichte, dieses Kammerstück 98 Jahre nach dem erstmaligen Erscheinen in einer englischen Zeitung nun auf Deutsch vorliegt, ist nicht bloss dem Umstand zuzuschreiben, dass Rebecca West als einzige zeitgenössische Frau einen Roman über die direkten Auswirkungen des ersten Weltkriegs schrieb. Rebecca West zieht die Ausläufer des Krieges bis in die von Tradition, Etikette und Adel bestimmte Aristokratie Englands. Ein ganz ausserordentliches Buch einer ausserordentlichen Frau!

8111 Dame Cicely Isabel Fairfield, besser bekannt als Rebecca West (1892-1983), wurde in London geboren. West arbeitete als Journalistin für namhafte Zeitungen, darunter der Daily Telegraph, New Statesman, New York Herald Tribune. Sie machte sich einen Namen mit ihren Artikeln als Frauenrechtlerin und Literaturkritikerin. Auf diese Weise lernte sie auch H.G. Wells kennen. Sie schrieb einen Verriss über seinen 1912 erschienenen Roman «Mariage. Die Geschichte einer Ehe» und bezeichnete Wells als die alte Jungfer unter den zeitgenössischen Romanciers. Das machte ihn neugierig und er lud sie zum Lunch ein. Ab 1913 wurde daraus eine Liebesbeziehung. Die Beziehung der beiden hielt gute zehn Jahre, aber sie hatten bis zu Wells› Tod im August 1946 ein gutes Verhältnis zueinander. West soll wohl auch ein Verhältnis mit Charlie Chaplin gehabt haben. Sie arbeitete als Schriftstellerin; George Bernard Shaw sagte einmal, dass wohl niemand so gut und so rigoros mit einem Stift umgehen könne wie Rebecca West. Als Journalistin wurde sie mehrfach ausgezeichnet, Truman bezeichnete sie in einer Laudatio als die beste Reporterin der Welt. 1946 entsandte sie der New Yorker als Berichterstatterin zu den Nürnberger Prozessen, in den 60er Jahren berichtete sie aus Südafrika über Apartheid.