Yasmina Reza ist eine der bedeutendsten französischen Autorinnen der Gegenwart, spätestens seit ihren Theaterstücken „Kunst“ oder „Gott des Gemetzels“. Rezas Kunst ist mit Sicherheit die Dramaturgie. Aber in ihrem neuesten Buch mit dem Titel „Die Rückseite des Lebens“ kann man sich ganz und gar in die Sprache der Schriftstellerin verlieben, die klare Gestalt ihrer Sätze.
„Die Rückseite des Lebens“ ist keine Sammlung von Erzählungen. Es sind auch keine Betrachtungen. In den über fünfzig mehrheitlich sehr kurzen Texten mäandert Yasmina Reza zwischen Tagebucheinträgen einer Beobachterin und literarischen Kurzreportagen. Über längere Zeit besuchte die Schriftstellerin immer wieder Gerichtsprozesse, solche von Promenenten wie jenen gegen den ehemaligen französischen Präsidenten Sarkosy, aber auch solche, bei denen jene Verbrechen verhandelt werden, die es nie wegen der Personen, aber sehr wohl wegen der Art des Verbrechens in den Fokus der Öffentlichkeit schaffen. „Die Rückseite des Lebens“ ist aber nicht einfach eine Sammlung menschlicher Abgründe. Immer wieder sind ganz kleine Beobachtungen eingefügt, Momente der Freude, Begegnungen mit Bekannten und Freunden. Normalitäten, die im Kontrast mit den Ungeheuerlichkeiten, die vor Gericht verhandelt werden, in ein ganz eigenes Licht getaucht sind.
Was die Autorin an all diesen Gerichtsfällen, diesen Schicksalen, der Nähe zum Bösen interessiert, mag unterschiedliche Gründe haben. Die Sehnsucht der meisten Menschen nach Harmonie, Sonnenuntergängen, Kitsch und romantischen Gefühlen steht in krassem Widerspruch zu einer Autorin, die sich genau dorthin begibt, wo die Staatsgewalt mit den Mitteln der Justiz dem entgegentritt, was sich auf der Rückseite des Lebens zu befinden scheint. Aber was die Rückseite ausmacht, ist eine Frage des Standpunkts, der Perspektive. Dort, in den Gerichten, vor den Richtern, werden Leben ausgerollt, die kippten, die zur Gefahr für Leib und Leben wurden. Leben, die durch Fehlentscheidungen aus der Bahn liefen, aber auch Leben, die gar nie eine Chance hatten, auf die „Vorderseite“, die Sonnenseite des Lebens zu treten.

Vielleicht sind diese literarischen Kurzreportagen, die sich nur skizzenhaft um Vollständigkeit bemühen, einen Eindruck, nie genug Zeit, um wirklich in die Untiefen menschlicher Existenzen abzutauchen, genau jene Welt, aus der Yasmina Reza sonst ihre Romane, Theaterstücke und Drehbücher schreibt. Diese Spanne zwischen scheinbarer Normalität, dem kleinen Glück bis hin zu blutgetränkten Abgründen. Als wäre dieses Buch eine literarische Bilder-, Fotoausstellung. Wer die Texte liest und sich auf das Gelesene einlässt, macht sich unweigerlich die Geschichten, die inneren Bilder selbst.
Wenn Yasmina Reza im Gerichtssaal sitzt, ist das, was sie schreibt weder Erklärungsversuch noch Sozialstudie. Yasmina Reza zeichnet literarische Miniaturen. Was den besonderen Reiz dieser Kontraste ausmacht; Reza schildert mit vollendeter Sprache das Kleine, Traurige, Abgründige, Schmerzhafte. All das, was ich als Betrachter unweigerlich mit dem Maximum an Emotionen verbinde. Nicht das Yasmina Reza ohne Empathie schreiben würde, ganz im Gegenteil. Aber sie entzieht sich jedem Urteil, jeder Erklärung. Alles, was sie schreibt, bleibt in der Sprache, in der gekonnten Schilderung all dieser Szenen, jenen im Gericht und jenen, die den Ursprung der Verhandlungen ausmachen.
Fragen wie; Was bringt ein Leben zum Kippen? Wann ist ein Leben verloren? Warum können wir nicht aufhalten, was unweigerlich auf den Abgrund zusteuert? Warum vergiftet eine Mutter ihre Kinder mit Insulin? Warum wird die Tochter von Einwanderern zur rasenden Rassistin?, interessieren die Autorin ganz offensichtlich. Aber Yasmina Reza überlässt mich beim Lesen mit den Antworten mir selbst – mit Absicht.
Manchmal sind es auch rührende Miniaturen. Wenn sie vom letzten Besuch beim grossen Schriftsteller Imre Kertész und seiner Frau erzählt, kurz vor seinem Tod. Begegnungen, die von der Verbundenheit zweier Herzen erzählen. Oder vom Schauspieler Bruno Ganz, mit dem sie öfters zusammenarbeitete, der in seinen letzten Jahren in Venedig lebte, den sie manchmal «zufällig» in den Gassen der Lagunenstadt traf. „Geschichten“ wie Tagebuchblätter, getragen von Liebe, Respekt und der Sehnsucht nach Nähe.
Yasmina Reza, 1959 geboren, ist Schriftstellerin, Regisseurin und Schauspielerin und die meistgespielte zeitgenössische Theaterautorin Für ihr Werk wurde sie zuletzt mit dem Jonathan-Swift-Preis 2020, dem Premio Malaparte 2021, dem Prix de l’Académie de Berlin 2022 und dem Prix Mondial Cino del Duca 2024 ausgezeichnet. Das Theaterstück «Der Gott des Gemetzels» wurde 2011 sehr erfolgreich von Roman Polanski verfilmt, hochkarätig besetzt mit Jodie Foster, Kate Winslet, Christoph Waltz und John C. Reilly.
Claudia Hamm ist Autorin, Theatermacherin und Übersetzerin von u.a. Emmanuel Carrère, Édouard Levé, Mathias Énard, Nathalie Quintane, Joseph Ponthus und Joseph Andras. Sie ist Herausgeberin des Akzente-Doppelhefts Automatensprache (Hanser, 2024).
Beitragsbild © Carole Bellaiche