Marten, noch jung und doch schon alt, ist Musiker, Friedhofstrompeter im Anzug für Musik am Abgrund. Friedhofsmusiker nicht aus Berufung, mehr weil er einfach dort hingespült wurde. An den einzigen Ort, der dann doch beweist, das alle Menschen gleich sind. An jenen Ort, an dem mit einem Mal alle Bewegung gebremst wird.
Vielleicht war es der Zufall, dass Marten eines Tages am Grab eines ehemaligen Klassenkameraden spielen sollte. Vielleicht genauso ein Zufall, dass Sonia immer wieder auf dem Friedhof auftaucht. Eine jener Sonderbaren, die auf dem Friedhof nicht die ewige, so doch die vorläufige Ruhe suchen. Auch Sonia war einst aus der selben Klasse. Bis Klassenkamerad Wilhelm eines Tages verschwand, untertauchte und nun, Jahre später, als Leichnam zurückkehrt. Marten findet die Bankkarte seines verstorbenen Klassenkameraden Wilhelm. Eine Spur, die ihn dorthin zurückbringen soll, wo Wilhelm und sein Leben zu knicken begannen.
Jess Jochimsen beschreibt das Leben eines Sonderlings, der schon mit zwölf Jahren vor Erschöpfung zu kapitulieren droht und noch vor dem Abitur die ersten grauen Haare bekommt. Martens Mutter verunglückt tödlich. Der Grossvater unter dem gleichen Dach wird vom Krebs weggefressen. Sein Vater verliert die Arbeit und tröstet sich mit dem Fernsehprogramm. Und Martens Bruder stürzt sich in die Welt des Zwielichts. Bloss Martens Schwester scheint die einzige, die den Boden unter den Füssen nicht verliert. All das ist viel und nicht unbedingt das, was Erfolg verspricht. Marten beginnt eine Lehre in der Stadtbibliothek, versucht sich in einem beschaulichen Leben oder zumindest dem, was er sich darunter vorstellt. Nur die Trompete gibt seinem Leben eine Stimme, eine unüberhörbare, selbst dann, wenn er auf dem Friedhof für die Toten und viel mehr für die Hinterbliebenen spielt.
Die Beschreibungen darüber, wie Marten zu einem Sonderling wird und wie er sich in seinem Tun und Lassen eines solchen eingräbt oder auch vergisst, ist höchst amüsant zu lesen. Wie leicht vergisst man! Jeder sucht seinen Platz, im Leben, in der Gesellschaft. Dass diese Suche mitunter erfolglos sein kann, vergisst jener, der am Sonntag auf der Hollywoodschaukel ein Buch lesen kann, allzu leicht. Marten taucht, ziemlich tief. Obwohl er tapfer das Leben eines Jugendlichen und Erwachsenen zu führen versucht. Erstaunlich genug, dass ein Entertainer, Tausendsassa und TV-Mann wie Jess Jochimsen einem stillen Eigenbrötler so nahe kommen kann wie in diesem Roman. Marten wird zum Sonderling, weil ihm das Talent zur Anpassung an Modeströmungen fehlt. Irgendwann kollabiert das System Marten. Und nur mit Hilfe seiner Trompete, der Musik, eines Buches mit dem Titel «Eine unvollständige Geschichte der Begräbnisvioline» (ein real existierendes Buch!) und der Bankkarte seines ehemaligen Klassenkameraden macht sich Marten auf den verschlungenen Weg zurück in sein Leben.
Der Roman ist nur schon deshalb lesenswert, weil nicht nur Martens Geschichte erzählt wird, sondern Geschichten von all jenen Sonderlingen um ihn herum, die sich im Soziotop Friedhof bewegen; Sebastian, der Geiger in Gehrock und Zylinder, Jensen, der Paternostermacher oder Berger, der unter seinen angestellten Friedhofsmusikern immer wieder einmal einen «Abschlussball» organisiert. Aber eben ein ganz anderes Fest als jenes, nachdem Martens Schulkamerad Wilhelm, den man nun mit viel Pomp zu Grabe trägt und eigentlich doch ein Gescheiterter war, in die Zukunft abtauchte.
Fünf Fragen an Jess Jochimsen
Ihr Roman ist die Geschichte eines Sonderlings. «Abschlussball» ist die Geschichte eines jungen Mannes, für den es auf dieser Welt keinen Platz zu geben scheint. Das Leben eines erfolgreichen Kabarettisten, Künstlers und «TV-Menschen» scheint wenig Schnittflächen mit dem eines Sonderlings zu haben. Trotzdem machen sie einen solchen zu ihrem Helden. Wie viel Sonderling steckt in ihnen?
O, das täuscht, „erfolgreich“ ist doch sehr relativ und so selten wie ich im Fernsehen auftreten darf, bin ich doch weit weg vom Leben eines „TV-Menschen“. Die überwiegende Zeit verbringe ich ziemlich zurückgezogen und mit dem Feilen an den Geschichten beschäftigt, die ich erzählen will. Kurz: Ich fürchte, in mir steckt mehr „Sonderling“ als mir lieb ist.
Ein wichtiger Schauplatz in ihrem Roman «Abschlussball» ist einer der Friedhöfe Münchens. Friedhöfe sind besondere Ort. Solche in grossen Städten sowieso. Nach der Lektüre ihres Romans habe ich geschworen, bei meiner nächsten Reise in eine grosse Stadt deren Friedhöfe zu besuchen. Wie kam es zu ihrer «Faszination Friedhof»?
Diese Faszination habe ich schon lange. Warum, kann ich gar nicht mit Bestimmtheit sagen. Ich fand schon als Kind, dass Friedhöfe spannende und „gute“ Orte sind, war dort oft, um meinen früh verstorbenen Großvater „zu besuchen“ und gehe auch heute noch oft dorthin. Einfach so. Es herrscht eine schöne Mischung aus Ruhe und Geschäftigkeit, die Pflanzenpracht und der Vogelbestand sind eine Wucht … und mal ganz abgesehen davon, bin ich überzeugt: So wie wir trauern, leben wir auch.
Eine wichtige Nebenrolle in ihrem Roman spielt das Buch von Rohan Kriwaczek «Eine unvollständige Geschichte der Begräbnisvioline». Damals, als ich das Buch kaufte, weil ich nur schon vom Titel fasziniert war, erlosch die Begeisterung schnell wieder. Ganz offensichtlich muss die Begeisterung für Musik und im Speziellen für Begräbnismusik bei ihnen gross sein. Wo liegt der Ursprung?
Mir ging es anfangs ähnlich. Ich kam mit dem akademischen Stil Kriwaczeks erst gar nicht zurecht … aber mir war von Anfang an klar, dass dieses Buch der Schlüssel zu einer Geschichte ist. Was die Musik angeht: Ich mache Musik, ich höre Musik, ich wäre gerne Profi-Musiker geworden. Musik ist – neben Fußball – eine der beiden Sprachen, die man wirklich überall auf der Welt versteht … Auf den Punkt gebracht: Bei mir ist Musik nicht nur Begeisterung, es ist Liebe!
Marten fällt es schwer, seinen Platz im Gefüge, in der Gesellschaft zu finden. Ihr Roman ist eine Liebeserklärung an alle Sonderlinge, von denen es immer weniger zu geben scheint. Oder sind sie nur gut versteckt oder gar versorgt in Institutionen?
Ja. Eine Liebeserklärung an die Sonderlinge, an die Menschen, die nicht überall mitmachen und dabei sein müssen, an die, die verschlungenste Wege gehen. Ich weiß es nicht, ob es weniger von ihnen gibt als früher oder ob sie besser versteckt sind, mag sein. Kein Grund, nicht von ihnen zu erzählen. Oder anders formuliert: Vielleicht kann man sie nicht immer finden, aber „er“finden schon.
Sie sind ein vorzüglicher Beobachter mit einem speziell geschulten Auge. Das beweisen nicht nur ihr Roman, sondern auch ihre Fotos und die feinen Pointen in ihren Bühnenprogrammen. Ist es die Aufgabe des Künstlers und Konsumenten ein Auge zu sein?
Ich bin überzeugt davon, dass Kunst immer sehr viel mit Beobachten zu tun hat. Hinschauen, hinschauen, immer wieder hinschauen. Ob das meine Aufgabe ist? Keine Ahnung. Ich bin neugierig. Und ich staune gern. Und spinne an diesen Beobachtungen weiter …
Vielen Dank für das Interview!
Jess Jochimsen, 1970 in München geboren, studierte Germanistik, Politikwissenschaft und Philosophie und lebt als Autor und Kabarettist in Freiburg. Seit 1992 tritt er auf allen bekannten deutschsprachigen Bühnen auf. Seit 2006 ist er Gastgeber der ›SWR-Poetennächte‹. In seiner Freizeit fotografiert er traurige Dinge, um diese dann als Dias vorzuführen oder Bücher damit zu bebildern. Bei dtv erschien 2000 sein Debüt ›Das Dosenmilch-Trauma‹. Es folgten ›Flaschendrehen‹ (Erzählungen), ›DanebenLeben‹ (Bildband), ›Was sollen die Leute denken‹ (Monolog), ›Krieg ich schulfrei, wenn du stirbst?‹ (Erzählungen), ›Liebespaare bitte hier küssen‹ (Bildband) sowie der Roman ›Bellboy‹, der Christian Lerch zu seinem Kinofilm ›Was weg is´, is› weg‹ inspirierte. Seine CDs erscheinen bei WortArt.
Titelfoto © jess jochimsen