Marie-Alice ist Künstlerin. Sie schreibt, zeichnet und malt. Und mit allem macht man sich eine Vorstellung dessen, was ein inneres Auge sieht. Alles skizziert Vorstellungen. Dass Vorstellung dann doch nie dem entspricht, was das Leben zeichnet, davon erzählt „Der halbe Apfel“.
So sehr vor Jahrzehnten in Sachen Familie und Beziehung, Geschlechter und Zugehörigkeit alles in Stein gemeisselt, eine göttliche Ordnung unumstösslich schien und unendliches Leid erzeugte, unsäglicher Zwang gefangen machte, so schwer lastet heute die allzeit wache Alternative, der Ruf danach, alles abzustossen, sich durch nichts und niemanden eingrenzen zu lassen. Nicht dass ich mich zurücksehnen würde. Aber jede Befreiung macht die Suche nach der eignen Ecke, der eigenen Identität, der eigenen Aufgabe, dem eignen Patz nicht leichter. Es wurden Fesseln gesprengt, Tür und Tor geöffnet, damit die Suche aber nur viel schwerer gemacht.
Genau davon handelt „Der halbe Apfel“ von Marie-Alice Schultz. Ein Roman, der nicht durch Action, Spannung und einen ausgesuchten Plott glänzt, aber einer, der Fragen stellt, die beissenden Fragen der Gegenwart, deren Versuche, Antworten zu finden, mitunter nicht weniger Leid hervorrufen als die Fesseln der Vergangenheit.
Ben ist gegangen, als sich Pia nicht entscheiden konnte, sich nicht für ihn entscheiden konnte, obwohl er unzweifelhaft der Vater eines Kindes war. Ben verschwand, weil er von seinem Leben, weil er von Pia etwas anderes erwartet hatte, und weil Pia nicht geben konnte, was Ben hätte haben wollen. Denn Pia mochte Vinz ebenso. Und als die gemeinsame Wohnung von Pia, Ben und Vinz zu eng wurde und sich Ben nicht länger mit Erklärungen trösten konnte, ging er weg, um nach sieben Jahren wieder aufzutauchen. Wie aus dem Nichts. Nicht weil ihn Pia zurückgerufen hätte, nicht weil er sich neben Vinz nun bessere Chancen ausrechnete, sondern weil er glaubte, Janis würde ihn als Vater brauchen.
Aber dem instabilen Gefüge macht Bens Erscheinen nichts leichter. Ganz im Gegenteil. Das bisschen Normalität, die nur mit Mühe festgehaltene Familienkonstellation bricht gänzlich auseinander, denn jetzt geht Pia. Damals als sie Mutter wurde, war sie sich all dessen nicht bewusst, was sie verlieren würde. Nicht nur an Raum, sondern an kreativer Kraft, die nichts mehr zustande bringt. Pia bricht auf und aus. Pia mag nicht mehr halten, was über Jahre nur mit maximaler Anstrengung zurückgehalten werden konnte.
„Verziehen hat sie ihm nie ganz, aber verstehen konnte sie. Dass man sein eigenes Leben verlässt, weil es droht, einen zu überfordern. Weil man weiss, dass die kommenden Monate sich bereits jetzt dunkel andeuten, ein Scherenschnitt, der das Scheitern vorwegnimmt.“
Und Marie-Alice erzählt. Die Erzählerin aus dem fernen Hamburg. Die Freundin. Die Schriftstellerin, die genauso sucht und zweifelt, nicht weiss, wohin ihr all die Möglichkeiten hinzeigen, sei es in ihren Beziehungen, ihrer Arbeit am Text, ihren Bildern oder dem Schmerz um eine Mutter, die sie an den Tod verloren hatte. Eine Mutter, die der Fixstern einer ganzen Familie war und mit ihrer entschlossenen Lebensart all das zu verkörpern schien, was den Planeten um sie herum zu fehlen schien. Eine Mutter, die mit ihrem überraschenderen Tod eine Leere hinterliess, die nichts und niemand auffüllen konnte.
Marie-Alice sucht, sucht nach Spuren und Zeichen, nach Erklärungen und Antworten. Marie-Alice versucht, Ordnung zu schaffen. In den gebeutelten Hausstand ihrer Freunde in Wien und ihre aus dem Gleichgewicht geworfene Familie in Hamburg.
„Der halbe Apfel“ ist eine Beziehungskiste im wahrsten Sinne des Wortes. Aber für einmal ganz und gar nicht abwertend gemeint. Als Marie-Alices Mutter starb und man ihr im Krankenhaus die Hinterlassenschaft übergab, war da ein halber Apfel, verpackt in einer kleinen Plastiktüte. Die eine Hälfe hatte ihre Mutter gegessen, die andere war übrig geblieben. Ein halbes Leben war gelebt, die andere Hälfte blieb zurück. Ihr Mutter hatte von dem Apfel gegessen, in den sich Marie-Alice nicht zu beissen traut.
„Der halbe Apfel“ ist ein fein gesponnenes Psychogramm, unaufdringlich und ehrlich. Der Roman gespickt mit knappen, witzigen, würzigen Dialogen, die Geschichte der Versuch, in die verschiedensten Leben Ordnung zu bringen.
„Der halbe Apfel“ ist ein behutsames Buch über Freundschaft und Familie. Aber auch über Mutterliebe und die schmerzhafte Gewissheit, mit dem Tod eines geliebten Menschen, einer Mutter erst recht, unsäglich viel verloren zu haben. Ein Eingeständnis. „Der halbe Apfel“ ist ein Roman wie ein langer Abend in Freundschaft!
Marie-Alice Schultz, geboren 1980 in Hamburg, studierte Theaterwissenschaften und Germanistik in Berlin sowie Bildende Kunst in Wien. 2016 war sie Stipendiatin der Schreibwerkstatt der Jürgen-Ponto-Stiftung und Teilnehmerin des 20. Klagenfurter Literaturkurses. Für ihren Debütroman «Mikadowälder» (2019) wurde sie mit dem Hamburger Förderpreis für Literatur ausgezeichnet. Die Autorin lebt in Hamburg.
Beitragsbild © Henning Christiansen