Leben aus der Distanz? Aus der Distanz des Alters? Lieben aus der Distanz? Durch ein halbes Dutzend Flugstunden, über Kontinente getrennt? Durch ein halbes Leben, der Gewissheit, dass gemeinsames Altwerden unmöglich ist? Durch Biografien, die sich nicht so einfach offenbaren lassen, in denen Geheimnisse bleiben?
Roland, vielleicht so alt wie der Autor selbst, Privatgelehrter an einer New Yorker Universität und in Berlin Forschender auf den Spuren rund um die Spekulationen der im Louvre ausgestellten Mona Lisa, verliebt sich doch noch. In eine viel jüngere Frau, die er bei einer Trauerfeier in Manhatten kennenlernt. Roland liest dort ein Stück Prosa des Verstorbenen vor und ist schon während des Lesens betört vom Lachen der jungen Frau. Leyla, persischen Ursprungs, ist nicht nur viel jünger, scheint auch unerreichbar für den in die Jahre gekommenen Gelehrten. Und doch trifft die Liebe beide wie ein Gewitter, ein Wolkenbruch. Roland, abgeklärt und in seinem Leben eingerichtet, sieht sich mit einer Wand aus Emotionen konfrontiert, von denen er sich als werdender Greis befreit fühlte. Darf und soll er das noch? Soll er sich hingeben, gehen lassen? Selbst im Wissen darum, dass er mit den Empfindungen und Torheiten eines Dreissigjährigen agiert? Ein Mann, der sich sonst mit der Echtheit jenes Bildes auseinandersetzt, das zum Inbegriff des Schönen, der Perfektion zählt. Ein Mann, der nichts dem Zufall überlässt, alles akribisch und wissenschaftlich angeht. Er, der sich immer mehr und unausweichlich mit den Zeichen des Alterns auseinanderzusetzen hat, damit, dass er Namen vergisst, immer öfter das Opfer «einer diskreten Verbrennungsanlage im Gehirn» wird. Ist es die Suche und Sehnsucht nach dem Glück angesichts der unbestreitbaren Endlichkeit des Lebens? Oder ist er nicht einfach ein blinder Idiot? Sind es die Geheimnisse um Leyla, genauso wie die Geheimnisse um den misteriösen Bilderraub vor mehr als 100 Jahren, als ein einfacher Handwerker die Mona Lisa aus dem Louvre trug und das Gemälde längere Zeit verborgen blieb? Roland selbst ist davon überzeugt, dass die ganze Welt dort im Louvre einer Kopie des berühmten Lächelns huldigt. Ist dem Lächeln der Mona Lisa zu trauen? Roland lässt sich in das Abenteuer fallen, erst recht, nachdem die alten Männer im «Club der Unentwegten», sein «alter» Freundeskreis in seiner Heimatstadt Berlin, von ihren Abenteuern erzählen. Alte Männer, die alle irgendwie der Liebe, dem Verliebtsein und der Sehnsucht danach ihr Leben ausrichten. Unentwegt lieben, bereit, alles, was sie an Normalität umgibt, aufs Spiel zu setzen, vielleicht ein letztes Mal.
Roland pendelt zwischen Welten, zwischen Berlin und New York, seinem Zuhause und seinem Liebestraum, zwischen Realität und Rausch. Noch viel mehr, als Leyla Roland bittet, Vater ihres Wunschkindes zu werden. Noch mehr, weil Roland weiss, dass Leyla geschwärzte Seiten mit sich herumträgt, vieles aus ihrer Geschichte, das sie nicht preisgeben will. Auf einer gemeinsamen Reise nach Italien, in die Trümmer der Ruinenstadt Pompeji, als Roland angesichts der Gipsabdrücke der Vulkantoten mit seinen Schilderungen der Katastrophe damals einen emotionalen Ausbruch Leylas verursacht, legt Leyla frei, was sie als Geheimnis, als Verletzung mit sich herumträgt. Leyla verlor damals, als am 11. September 2001 die beiden Türme in New York einstürzten, die Liebe ihres Lebens. Aber nicht, weil der Mann verbrannt, aus dem Fenster gesprungen, von Trümmern erschlagen oder von der Wucht des Einsturzes zerrieben wurde. Was an jenem Septembertag geschah, riss eine Mehrfachwunde in die Seele der jungen Frau.
Peter Schneider ist ein schnörkelloser, leidenschaftlicher Erzähler. Er zieht mich mit den emotionalen Beben eines in die Jahre gekommenen Mannes, der sich seiner Endlichkeit bewusst ist, nicht erst mit dieser einen Liebe, aber mit ihr umso mehr, in den Bann. Peter Schneider weiss, dass Gefühle kein Altern kennen, höchstens immer grösser werdende Entfernung von ihnen. «Club der Unentwegten» ist eine Liebesgeschichte, ein Roman darüber, was zwischen Mann und Frau wider aller Vernunft geschehen kann.
Peter Schneider, geboren 1940 in Lübeck, wuchs in Freiburg auf, wo er sein Studium der Germanistik, Geschichte und Philosophie aufnahm. Er schrieb Erzählungen, Romane, Drehbücher und Reportagen sowie Essays und Reden. Seit 1985 unterrichtet Peter Schneider als Gastdozent an amerikanischen Universitäten, unter anderem in Stanford, Princeton und Harvard. Seit 1996 lehrt er als Writer in Residence an der Georgetown University in Washington D.C. Er lebt in Berlin. Bei Kiepenheuer & Witsch erschienen zuletzt «Die Lieben meiner Mutter», 2013 und «An der Schönheit kann’s nicht liegen», 2015.
Titelbild: Sandra Kottonau