Stürme toben nicht nur auf See und Land. In „Windstärke 17“ erzählt Caroline Wahl von einem nicht enden wollenden Sturm in einer jungen Frau. Einem Sturm, den sie überall hin mit sich trägt, dem nicht zu entfliehen ist. Ein eindringlicher Roman über das Gewicht einer vermeintlichen Schuld und vergeblichen Fluchtversuchen, am wenigsten vor der Familie.
Man muss Caroline Wahls Debüt „22 Bahnen“ nicht gelesen haben, um „Windstärke 27“ geniessen zu können, auch wenn das Personal das gleiche ist. War die Protagonistin in „22 Bahnen“ Tilda, die ältere der beiden Schwestern, so ist es in „Windstärke 17“ Ida. Ida haut ab, hat ihre Sachen gepackt, zumindest das, was sie in den marineblauen Hartschalenkoffer ihrer Mutter packen kann. Wichtigstes Gepäckstück im Koffer ist Ida MacBook, denn Ida möchte schreiben, auch wenn es damit nur noch zäh voranging. So wie alles in einer zähflüssigen Suppe zu versinken drohte und Ida sich nur noch mit Flucht zu helfen weiss.
Seit ein paar Tagen ist Tildas und Idas Mutter tot. Ida war nicht einmal mehr fähig, zur Beisetzung ihrer Mutter zu erscheinen, obwohl sie bis zum bitteren Ende ihrer alkoholkranken Mutter an ihrer Seite war, wenn auch im allerletzten Moment doch nicht. Ihre Mutter hatte alles aufgeräumt und sich zum Sterben hingelegt, als sie alleine war. Auch dies eine Flucht. Und weil Ida spürt, dass ihr die Stadt, die sie mit ihrer Mutter teilte, wie ein schwerer Stein am Hals zieht, muss sie weg. Eigentlich war ausgemacht, dass sie zu ihrer verheirateten Schwester Tilda nach Hamburg fährt. Aber weil da ein anderer Zug stand und Ida nichts zu ihrer Schwester zog, stieg sie ein und fuhr über Hamburg hinaus bis auf Rügen, wo sie in einem kleinen Kaff am Meer eine Stelle in der Robbe findet, einer schummrigen Kneipe. Der Laden gehört Knut, der eigentlich nie spontan Fremde einstellt. Aber da ist etwas zwischen Ida und Knut, etwas, dass aus Knut bald Opa Knut macht.
Nach einem Schwächeanfall von Ida lädt Knut die junge Frau zu sich nach Hause ein, in ein Zimmer, das mit ‚Mandy‘ angeschrieben ist. Bald stellt sich heraus, dass auch im Haus von Knut ein Sturm wütet, wenn auch ein ganz anderer. Knuts Frau Marianne ist totkrank, voller Methastasen, vorbereitet darauf, dass es wohl nicht mehr lange dauern wird. Unweigerlich gerät Ida in ein Gefüge, das sie erneut vor die Frage stellt, ob sie bleiben kann oder fliehen muss. Sie lernt Leif kennen, der sich bis vor ein paar Wochen noch als DJ sein Geld verdiente, der sich wie Ida auf der Insel neu zu finden versucht. Idas Stürme reissen an ihr; ihre Mutter, die sich nicht erst mit ihrem Sterben von ihr entfernt, ihre Schwester, die Ida permanent mit schlechtem Gewissen füttert, Knut und Marianne, die sich in ihrer Endlichkeit zurechtfinden müssen und diese Gefühle, die sie für Leif empfindet, die nur zuzudecken scheinen.
Caroline Wahl beschreibt diesen Sturm, der alles durcheinanderwirbelt, den Kloss aus Wut und Zorn und den nagenden Schmerz, jenen entscheidenden Moment im Leben versäumt zu haben, jene Momente mit der Mutter, jene Momente mit ihrem Traum vom Schreiben, dem drohenden Moment mit Marianne, die ihr etwas schenkt, was sie von ihrer Mutter nie bekommen hatte.
Manchmal schwimmt Ida weit hinaus. Manchmal gar über eine Grenze hinaus. Wo sind die Momente, von denen es kein Zurück mehr gibt? Wie schafft man es, den immer wieder aufflammenden Sturm in seinem Innern unter Kontrolle zu bringen? Schafft man das alleine? Wie befreit man sich vom äzenden Schmerz vermeindlicher Schuld? Caroline Wahls Roman ist die intensive Auseinandersetzung mit der gebeutelten Innenwelt einer jungen Frau. Dabei inszeniert die junge Autorin stilsicher und gekonnt und überzeugt nicht zuletzt durch treffende Dialoge und einen erstaunlich ruhigen Fluss des Erzählens.
Nachdem «22 Bahnen» im Rahmen der Frankfurter Buchmesse bereits zum «Lieblingsbuch der Unabhängigen 2023» gekürt wurde, ist Caroline Wahls Debütroman nun auch «Lieblingsbuch des Deutschschweizer Buchhandels 2024».
Caroline Wahl wurde 1995 in Mainz geboren und wuchs in der Nähe von Heidelberg auf. Sie hat Germanistik in Tübingen und Deutsche Literatur in Berlin studiert. Danach arbeitete sie in mehreren Verlagen. 2023 erschien ihr Debütroman «22 Bahnen» bei DuMont, für den sie mit dem Ulla-Hahn-Autorenpreis, dem Grimmelshausen-Förderpreis und dem Buchpreis Familienroman der Stiftung Ravensburger Verlag ausgezeichnet wurde. Ausserdem wurde «22 Bahnen» Lieblingsbuch der Unabhängigen 2023. Caroline Wahl lebt in Rostock.
Beitragsbild © Frederike Wetzels