Hier flüstern Manuela Hofstätter von lesefieber.ch und ich über Bücher, die Nominierten, den Schweizer Buchpreis 2022 und überhaupt …
Liebe Manu
Dein Optimismus ehrt Dich. Vielleicht hat meine Ernüchterung damit zu tun, dass das Lesen, die Lektüre für mich weit mehr als Unterhaltung und Zeitvertreib ist. Ich messe ein Buch nicht an seiner Zersteuungswirkung. Ganz im Gegenteil. Ich messe ein Buch an dem, was es in mir auslöst; an Gedanken, Reflexion, Resonanz, Emotion, Konzentration.
In meinem Brotberuf bin ich in der Bildung tätig. Dort ist die Versuchung gross, Bücher bloss als Stoffträger einzubinden. Selbst Literatur wird degradiert zu fremd gewordener Auseinandersetzung, einem Frage-Antwortspiel, blutleer und seelenlos. Jüngeren Kindern muss das Buch gegen all die anderen „Unterhaltungen“ standhalten. Dabei ist Literatur ein Tor zu Dimensionen, die einem sonst verschlossen bleiben. Literatur ist Türöffner. Und manchmal reisst der Himmel auf und Sprache leuchtet durch mich hindurch, löst ein Schaudern aus.
Ich bin mir alles andere als sicher, ob der Schweizer Buchpreis jenes Buch auszeichnen wird, dessen Tiefenwirkung am grössten ist. Das ist auch gar nicht die Aufgabe dieses Preises. Der Preis will Aufmerksamkeit. Das ist alles. Ehrenhaft, dass die Jury „Pommfritz“ von Lioba Happel in die Endausscheidung aufgenommen hat. Aber „Pommfritz“ ist pure Auseinandersetzung. Keine Nachttischchen-, keine Strand- und schon gar keine Unterhaltungslektüre. Bücher wie „Pommfritz“ in der Shortlist sollen wohl der Ernsthaftigkeit dieses Preises dienen. Ob ich „Pommfritz“ weiterempfehlen würde? Nur mit einem Beipackzettel, der vor unerwarteten Nebenwirkungen (, die durchaus schwindlig machen können!) warnt – aber nicht zum Abtauchen – höchstens zum Aufschrecken. „Pommfritz“ ist kein Lesefutter, sondern Medizin.
Liebgruss
Gallus
Lieber Gallus,
ich habe dir so lange nicht geantwortet, weil ich deine Zeilen setzen lassen musste. Sie erzeugten im ersten Moment Groll in mir, Groll, der an meiner Berufsehre als Buchhändlerin entflammte und auch gegenüber dem Berufsstand der Lehrer. Literatur an den Schulen; ich ärgere mich zuweilen, wenn ich merke, wie an Schulen jedes Jahr erneut derselbe, meiner Meinung nach schon an Schwachsinn grenzende, gleiche «Klassiker» gelesen wird oder eben eher der Schülerschaft angetan wird. Da bin ich mir sicher, das wirkt nicht lesefördernd, öffnet kein Tor zur Literatur. Das richtet viel mehr Schaden an, denn nach dieser Lektüre ist klar, Lesen, Literatur ist nichts für die junge Generation. Zum grossen Glück gibt es aber doch Lehrkräfte, die da anders unterwegs sind und es verstehen, eine Klassenlektüre zu wählen, welche überzeugt. Den grossen Anspruch, welchen du da nennst, den erwarte ich da noch gar nicht, den sehe ich erst auf der gymnasialen Stufe. Aber die Freude am Lesen wecken, aufzeigen, dass ein Buch so vieles bewegen kann, helfen kann, anregen kann zum Nachdenken, neue Wege eröffnen … das funktioniert, ich habe es schon mehrmals erleben dürfen und appelliere an die Mündigkeit der Leserschaft, egal welchen Alters.
Das beginnt ja bereits beim Bilderbuch. Was mir gefällt, was ich kunstvoll und toll finde, gar noch eine wertvolle pädagogische Botschaft übermittelt sehe, das gefällt der vierjährigen Lilli allermeistens nicht die Bohne. Wenn die Patentante ein Jugendbuch für ihr Patenkind auswählt, geht es oft schief, das Buch bleibt ungelesen, was die Käuferin des Buches nicht erfahren wird. Als Buchhändlerin liebe ich an meinem Beruf am allermeisten; diese Fähigkeit zu erlernen, jeden Tag aufs Neue mein Gegenüber wahrzunehmen, nur dann kann ich versuchen, eine Buchempfehlung zu machen. Die Mündigkeit der Leserschaft ist für mich unantastbar, von daher rührte auch mein anfänglicher Groll deinen Zeilen gegenüber, denn die Überheblichkeit ist der Tod jeglicher Buchempfehlung.
Ich las als allererste Werke in meinem Dasein Comics, das galt damals als Schund oder dein schönes Wort, Stoffträger. Es ist und bleibt für mich weitaus mehr als das. Comics sind und waren immer schon ein höchst wertvoller Einstieg ins Lesen, hin zum Buch, zur Literatur.
Nun, ich schweife ab. Der Schweizer Buchpreis hat also die Aufgabe, Aufmerksamkeit für diese fünf nominierten Werke zu schaffen. Hier zweifle ich nun an, ob das erreicht wird. Hat schon jemals ein Verlag ein Buch verlegt, für welches er sich keine Aufmerksamkeit wünschte? Welchen Werken versucht man nun mit dem Schweizer Buchpreis diese Aufmerksamkeit zu verschaffen? Was möchte man damit erreichen? Ist der Schweizer Buchpreis der Leseförderung zuträglich? Hilft dieser Preis den Buchverkauf der nominierten Werke anzukurbeln?
Lieber hochgeschätzter Gallus, ich bin sehr gespannt, ob du dich diesen schlichten Fragen stellen magst. Ich danke dir für unseren Austausch, möge er noch ein paar Menschen erreichen, oder auch nicht, mir bereitet er jedenfalls Freude und Auseinandersetzung.
Herzlich grüsst dich
Manu