Anda hat es nicht auf die Sonnenseite des Lebens geschafft. Das Leben watscht sie gandenlos ab. Ein Leben, in das sie sich selbst und andere sie hineinmanövriert hatten. Ein Leben, das irgendwann nur noch aus Trümmern bestand, trotz all der guten Absichten, die da einmal waren.
„Bleibender Schaden“ ist ein ungemein eindringliches Buch. Das Buch einer Bruchlandung, von einem Leben, bei dem kein Stein auf dem andern bleibt. Ein Roman jener Sorte, die nicht beschönigen, keine Geschichtchen erzählen, weder bezaubern noch betören will – wenn dann nur durch die Sprache. Und das hat der neue Roman von Andrea Gerster ganz; die Qualität einer sprachlichen Offenbarung. Auch wenn es für die Geschichte beinahe einen Beipackzettel bräuchte.
Anda ist verheiratet, Mutter erwachsener Zwillinge und arbeitet als Ergothearpeutin in einer sozialen Einrichtung. Ein Beruf, bei dem körperliche Nähe Basis ist, unvermeidbar. Aber auch ein Beruf, der Risiken birgt, gerade dann, wenn Grenzen überschritten werden. Anda wird während einer Therapiestunde von einem älteren Patienten geschlagen. Zweimal. Mitten ins Gesicht. Schläge nicht nur ins Gesicht, Schläge in ihre Mitte, die eh schon lange aus dem Lot geraten ist. Anda kämpft um ihr Gleichgewicht. Nicht nur dass die Beziehung zu den erwachsenen Kindern schwierig geworden ist. Luk, ihr Mann, hat einen Seitensprung zugegeben, ein Affäre, die noch nicht durch ist. Aber statt Reue seinerseits schafft es Luk, ihr das schlechte Gefühl unterzuschieben, als wäre sie es, die den Schritt zur Wiedergutmachung machen müsste. Als läge es an ihr, ihm zu verzeihen.
Als unsere Zwillinge noch Kinder waren, roch das Leben nach Zukunft.

Eines Abends kommt Anda von der Arbeit nach Hause. Luk demonstiert Hausmannskraft. Nur Bob, der Hund, fläzt faul auf seinem Polster. Bis es im Obergeschoss rumpelt und der Staubsauger in gleichmässigem Geräusch weiterheult. Als Anda nach oben geht, findet sie Luk, ihren Mann, zusammengebrochen auf dem Boden, reglos, mit geschlossenen Augen.
Sie wüsste, was zu tun ist. Sie müsste zum Telefon greifen und anrufen. Luk in Seitenlage drehen. Aber Anda tut es nicht, wartet. Ich warte gern, bis du wieder so weit bist, hatte Luk gesagt. Jetzt wartet Anda.
Später liegt Luk im Spital im Koma. Auf einmal ist Anda aus einem Leben gerissen, aus dem es keinen Fluchtweg zu geben schien. Alles, was sich in der Vergangenheit für Momente als Fluchtversuche anfühlte, waren Sackgassen. Die manischen Fahrten mit Rolltreppen genauso wie der Alkohol, mit dem sie sich zu trösten versuchte.
Während ihr Mann im Koma sein Leben ausgesetzt hat, rollt es sich für Anda vor ihr aus. Ein Leben, das nur noch als Resten besteht, in denen selbst die „guten“ Erinnerungen zu verblassen drohen.
Es braucht mich nicht, hatte mich nie gebraucht.
Anda versucht sie neu zu erfinden, neu einzurichten, darauf vorzubereiten, nicht wieder in alte Muster zurückzufallen. Soll sie auf Luks Rückkehr hoffen, auf Besserung? Oder wäre das schlimmste Szenario für ihn das beste für sie? Anders leben als bisher, auf jeden Fall so, wie ich es will, mahnt sie sich selbst. Luks Zusammenbruch, die Leere zuhause, ist für Anda die Aufforderung zu einem Neuanfang. So wie Erinnerungen in ihr hochkriechen, die Sehnsucht nach einem kleinen Stück Glück, so sehr will sie sich befreien von den Damönen ihrer Vergangenheit, nicht zuletzt vom Klammergriff ihrer Alkoholsucht, einer schwierigen Familiengeschichte, von einer Mutter, die nie da war, von den Schlägen und Bestrafungen ihres Ehemannes.
Sie, die es mit ihren Kindern hätte besser machen wollen, sie, die mit Luk hoffnungsvoll in eine Liebe steuerte, sie, die immer wieder glaubte, es wäre da eine Tür, Therapien würden helfen, sie, die konstatieren musste, dass stets Luk die Trümpfe in der Hand hatte.
„Bleibender Schaden“ ist stark geschrieben, vielschichteig, von bestechender Intensität.
Andrea Gerster, geboren 1959 in Schaffhausen, ist vielseitig künstlerisch tätig. Neben ihrer langjährigen Arbeit als Journalistin für Tageszeitungen und Magazine organisierte sie u.a. auch zahlreiche Literaturveranstaltungen. 2002 wandte sie sich überwiegend dem literarischen Schreiben zu. Andrea Gerster wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. mit einem Anerkennungspreis der UBS Kulturstiftung. Sie lebt im Kanton Thurgau. Zuletzt erschienen u.a. «Verlangen nach mehr» (Roman, 2014), «Alex und Nelli» (Roman, 2017).
Beitragsbild © Miklós Klaus Rózsa