«Der Grosse Gopnik» von Viktor Jerofejew : wahrlich ein Opus magnum!
Der Grosse Gopnik hat mein Buch zerbombt wie die Ukraine. Seltener Volltreffer! Er hat die Welt gezwungen, nach seiner Pfeife zu tanzen. Er hat jedes Dasein unmöglich gemacht.
«Russland wird aus dem Krieg auftauchen als ein unbegreifliches, unberechenbares Land.»
«Wann nur wird Europa in Bezug auf Russland klarsehen? Ich denke, niemals.»
«Im Unterschied zu Europa ist Russland antihistorisch, es hatte niemals eine Geschichte mit philosophischer Bedeutung.»
«Das Leben an und für sich ist viel schöner als die Menschen.»
«Die russische Fantasie ist unendlich, unermesslich. Sie kennt keine Grenzen.»
«Ich weiss, in Russland kann man sich nicht rechtfertigen. Besser so tun, als erinnere man sich an gar nichts, den Dummen geben oder einfach verrückt werden.»
Lieber Gallus
Heute Morgen früh habe ich «Der Grosse Gopnik» von Viktor Jerofejew fertiggelesen, benommen und nachdenklich. Nach der Begegnung mit dem sympathischen Autor in Leukerbad, dem hochinteressanten Gespräch dort und den gehörten Ausschnitten war ich motiviert, die 600 Seiten dieses Buches sofort in Angriff zu nehmen, unterbrochen nur von einer Bergsteigerwoche in Slowenien. Bisher kannte ich den Autor nur vom Namen her. Jerofejew sagte in Leukerbad, im Zentrum des Buches stehe der Mensch.
Dieses mit Episoden aus mehr als hundert Jahren vollgepackte Buch ist nicht einfach zu erfassen: Autobiografie, aktuelle Geschichte und Politik und der Blick auf die – gefährdete – russische Kultur. Klärende Gedanken über den Konflikt Russland-Ukraine. Begegnungen in Hinterhöfen, erstklassigen Hotels, Datschas und Bordellen auf mehreren Kontinenten, geschildert in einer bilderreichen Sprache, alles kunstvoll verwoben ergeben ein lebendiges Bild der aktuellen Welt. Schauplätze sind u.a. Paris, Dakar, Chicago bis Japan, natürlich Russland. Der Vater des Autors war ein hochrangiger russischer Diplomat.
«Nicht nur Mama konnte mich als Schriftsteller nicht leiden. Ebenso wenig, wenn nicht noch weniger, konnte mich die Regierung des Grossen Gopniks ausstehen.»
«Es quält mich, darüber nachzudenken wann und warum sich ein so lieber kleiner Junge, den alle mochten, in einen Menschen verwandelt hat, der zu Dingen fähig ist, die man nur als schrecklich bezeichnen kann.» (Brief von der Mutter)
Klug verwoben mit dem eigenen Leben des Autors lerne ich Charakter und Handeln des grossen Gopniks kennen, sein Aufstieg aus einem Petersburger Hinterhof zum langjährigen Herrscher über Russland. Unverkennbar Putin.
Das Buch ist gut lesbar, aufgeteilt in zwei Teile und 181 kürzere und längere Abschnitte. Zeitlich und räumlich entsteht ein beeindruckender Kosmos, wo sowohl Kritik wie Humor wie auch Ernst Platz haben. Da sowohl der Westen wie auch der Osten kritisch durchleuchtet wird, hinterlässt die Lektüre ein besseres Verständnis für die aktuelle Situation.
«Doch wie sich richtig verhalten, um irgendwann ohne Furcht zurückkehren zu können?»
«Den Krieg beim Namen nennen oder entsprechend den Forderungen Moskaus den Krieg nicht für einen Krieg halten?»
«Sich wegducken, sich verlieren oder sich frei äussern?»
Wie meisterhaft all das Persönliche, das Historische, die Kultur Europas und Russlands miteinander verwoben ist, haben mich begeistert. Die Kritik und Einordnung Europas aus russischer Sicht helfen, Russland besser zu verstehen. Hoffnung?
Die wunderbare Übersetzung von Beate Rausch (sie macht dies seit Jahren sehr gekonnt), macht dieses Buch zu einer sehr empfehlenswerten Sommer-Lektüre. Dieses Werk wird im jetzigen Russland kaum toleriert werden, es ist auch zuerst nur auf Deutsch erschienen, erst vor kurzem gibt es eine russische Ausgabe.
«Die parallele Lüge von amerikanischem Liberalismus und Konservatismus hat den amerikamischen Gopnik hervorgebracht – Trump.»
«Bisher war Dummheit gewissermassen ein sogar liebes und rührendes Phänomen, über das Erasmus geschrieben hat, aber jetzt hat sie etwas tödlich Toxisches angenommen und ist als unheilbare Krankheit über uns gekommen.»
Herzlich
Bär
Viktor Jerofejew, 1947 in Moskau geboren, wurde weltweit bekannt durch seinen 1989 erschienenen und in 27 Sprachen übersetzten Roman «Die Moskauer Schönheit». 1979 wurde er wegen seiner Beteiligung an der Literaturanthologie «Metropol» mit von der Zensur verbotenen Texten verschiedener Autoren aus dem Schriftstellerverband der UdSSR ausgeschlossen. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion gab er diesen von ihm als »Röntgenapparat, der die ganze Gesellschaft durchleuchtete« bezeichneten Almanach in einer Reihe neu heraus. Zudem ist er Herausgeber der ersten russischen Nabokov-Ausgabe. Er schreibt regelmässig für die New York Times Book Review, DIE ZEIT, die FAZ und DIE WELT und gilt als kritischer Intellektueller wie auch als einer der bekanntesten russischen Gegenwartsautoren.
Beate Rausch, 1955 geboren, studierte Slawistik und Germanistik in West-Berlin und Leningrad, arbeitete viele Jahre an Universitäten in Moskau und St. Petersburg. Heute lebt sie in Ulm, St. Petersburg und Triest. Sie übersetzt russische Literatur ins Deutsche, u.a. Viktor Jerofejew, Anton Tschechow, Daniil Charms.