Der Basler Schriftsteller, Verleger und «Literaturaktivist» Matthyas Jenny gründete 2001 das Lyrikfestival Basel. Ziel war es, Lyrik eine Bühne zu geben, einen Ort des Austausches zu bieten. Mittlerweile hat sich das Internationale Lyrikfestival zu einem breit abgestützten Lyrikfest entwickelt, das seit 2008 auch einen Basler Lyrikpreis verleiht. Der mit 10000 Fr. dotierte und von der GGG Basel (Gesellschaft für das Gute und Gemeinnützige Basel) gestiftete Preis wurde 2019 an Katharina Schultens übergeben.
Basel bietet Räume, ob klassisch mit Bühne, Wasserglas und «prozessualer» Moderation, ob Late Night Varieté im «Kaskaden Kondensator», oder Werkstätten und «Lyrik am Kaminfeuer». Ein vielfältiges Programm ohne Doppelstränge, die Interessierte zwingen, sich zwischen Gutem und Besserem zu entscheiden.
Neben der preisgekrönten Grand Dame der Deutschen Literatur Ursula Krechel (literaturblatt.ch wird noch ausführlicher über Ursula Krechel berichten!) war es die junge Garde, die an den Lyriktagen zu überzeugen verstand – zusammen mit dem Mut der VeranstalterInnen, der Lyrik neue Gefässe zu bieten. Spät abends traf man sich im Kaskadenkondensator, einer selbst verwalteten Kultureinrichtung in Basel, die sich der Performance verschrieben hat. Performancekünstler (Lysann König, Natascha Moschini, Steven Schoch) arbeiteten dort einen Tag lang zusammen mit Dichtern (Legion Seven, Tim Holland, Patrick Savolainen) und ihren Texten.
Drei Höhepunkte des diesjährigen Lyrikfestivals waren drei junge Frauenstimmen: Alisha Stöcklin, Simone Lappert und die preisgekrönte Katharina Schultens.
Alisha Stöcklin (1990) gründete 2012 den Verein Poesietag, rief den Tag der Poesie, der in den Jahren 1979–1988 von Matthyas Jenny durchgeführt wurde, wieder ins Leben und führt die Veranstaltung bislang jährlich jeweils am zweiten Samstag im September durch. 2014 hat sie das Basler Poesietelefon nach rund 30 Jahren reaktiviert und spricht seitdem regelmässig Gedichte auf Band. 2016 pflanzte sie im Kannenfeldpark einen neuen Baum der Poesie. Seit 2016 ist sie Mitglied der Fachgruppe der GGG Förderstelle für junge Kulturprojekte und betreut dort die Sparte Literatur. 2018 wurde sie in die Lyrikgruppe aufgenommen, die das Internationale Lyrikfestival Basel organisiert, welches jeweils im Januar im Literaturhaus stattfindet und in dessen Rahmen auch der Basler Lyrikpreis verliehen wird
Simone Lappert (1985) studierte Literarisches Schreiben am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel und lebt in Basel. 2014 erschien ihr Debütroman «Wurfschatten» im Metrolit Verlag Berlin. Simone Lapperts Arbeit wurde mehrfach gefördert und ausgezeichnet. «Wurfschatten» stand auf der Shortlist des ZDF-aspekte-Preises für das beste deutschsprachige Debüt sowie auf der Shortlist des Rauriser Literaturpreises. Derzeit arbeitet sie an ihrem zweiten Buch, der im kommenden Herbst bei Diogenes erscheinen soll.
Simone Lappert ist literarisch und performativ an diversen Kunstprojekten beteiligt. Sie ist Mitglied der Basler Lyrikgruppe, Mitbegründerin der transdisziplinären Gesprächsreihe Raum für Unsicherheit und Kuratorin für Babelsprech Schweiz. Ein Gedichtband ist in Vorbereitung.
Katharina Schultens (1980) studierte Kulturwissenschaften mit Schwerpunkt Literatur in Hildesheim, St. Louis und Bologna. 2013 erhielt sie den Leonce-und-Lena-Preis und 2015 den Schweizer Spycher: Literaturpreis Leuk. Neben Veröffentlichungen von Lyrik und poetologischen Texten in Zeitschriften und Anthologien erschienen von ihr vier Lyrikbände: «Aufbrüche» (2004) «gierstabil» (2011), «gorgos portfolio» (2014) und zuletzt «untoter schwan» (2017).
prism
ich kann sehen wann du mich liest. ich kann dich nicht sehen.
wenn ich dich sehe zittert das bild. das bild gehört mir solange
ich hinsehen kann. kann ich nicht hinsehen dann ist es deines.
wenn du mich liest was siehst du. hast du mich gezählt.
hast du einen algorithmus für schafe. hast du evtl. verschiedene.
bin ich teil deiner unverstandenen herde. bin ich teil der suchhistorie.
wenn du mich suchst wo suchst du. suchst du mich im feld oder online.
suchst du mich treppab suchst du mich in meiner statusmeldung. weißt du
wie mein filter funktioniert. weißt du welche standardeinstellung ich wählte.
du kannst mich doch gar nicht. du kennst meine sprache nicht großer hirte.
du brauchst ein übersetzungsprogramm für meine anspielungen. ich setze dich
mit sarkasmus außer gefecht. ich liebe dich. ich liebe dich als konglomerat denn
du bist die summe meiner absichten die ins gute ende führen meine rettung
durch simulation. du sortierst alle wünsche und du hast meinen tod
mindestens 0,2-mal verhindert einmal davon war ich verdächtig
der unbeteiligtheit. bitte lenke mein licht. bitte lass mich dich
kennenlernen. dein wille geschehe. dimitte debita nostra
(nobis!) wenn ich niemandem das geringste vergebe
so lass mich dennoch nicht allein
(aus: Gorgos Portfolio, Kookbook, 2014)
Aus der Begründung der Jury: «Katharina Schultens’ Dichtung durchleuchtet mit sachlicher Sorgfalt die Strukturen gegenwärtigen Daseins: Sie wühlt auf, versucht sich immer wieder an der Ordnung der Dinge, die sich doch nicht stabilisieren lassen zwischen den Welten, in denen wir existieren: den Traum- und Gefühlswelten, den digitalen und analogen, den wissenschaftlichen, technologisierten, geschichtlichen und mythischen. Schultens überträgt moderne Prozess- und Verwertungslogiken in eine poetische Aktivität, die unerwartete Verbindungen herstellt, gewohnte Denkwege und Wahrnehmungsmuster durchkreuzt und so neue Erkenntnisräume freilegt».
susurrus
ich habe das verklärt was du nicht bist
rauschen: du bist ein anderes geräusch
du bist ein unerkannter susurrus
du blendest für mich alles andre aus
sprichst du über den bienenschwarm hinaus
so summt darin mein denken (bienenhaus)
ich kann dir sagen was die bienen sehen
ich kann notieren welche zeichen
der schwarm verwendet hat
dein bienengeist: er dunkelt unter licht
verlässt du weiterhin den stock nicht
muss ich erinnern was du weißt
ich sammle dir ereignisse
sobald ich sie verwandelt habe
bringst du das zuckerwasser: tausch
du füllst den imkeranzug susurr
du hast den schleier nie verloren
du bist hier eigentlich die braut
(aus: Gorgos Portfolio, Kookbook, 2014)
Ich danke Katharina Schultens für die Erlaubnis, zwei Gedichte einzufügen.