Sulvaschin ist ein Ort im Kanton Graubünden, ein fiktiver Ort in einem Bergtal. Lisa, die Erzählerin in Andri Perls Erzählung kehrt auf Forschungsreise zurück an den Ort ihrer Kindheit, an den Ort ihrer Familie, an den Ort, an dem Ihr Vater verschwand und sich über sein Verschwinden ein Mantel des Schweigens legte.
Es gibt Bücher, die sich ganz leise gebärden. Neben seiner Tätigkeit als Schriftsteller ist Andri Perl Musiker. Seine Erzählung „Im Berg ist ein Leuchten“ ist ein leises Stück Literatur, eine Erzählung, die nicht nur in ihrem schönen Titel ein Leuchten zurücklässt. “Im Berg ist ein Leuchten“ ist eine Liebesgeschichte an einen Ort, ein Dorf, ein Tal, auch an die Menschen, ihre Besonderheiten, die fest mit den Besonderheiten des Tals, der Gegend, der Topographie verbunden sind.
Sulvaschin hat eine lange Geschichte, eine Geschichte, die mit dem Berg, dem Stein verbunden ist, denn über Jahrhunderte versprach der Berg Reichtum. Man glaubte, im Bergbau dem Fels jene Geheimnisse entlocken zu können, die dem Tal weit über die Grenzen Bedeutung geschenkt hätten. Ein Unternehmen, das immer wieder scheiterte, im Berg aber viele Narben hinterliess, Löcher, Stollen, Minen. Scheiterte und Opfer hinterliess, Leben, die sich im und am Berg verloren.
Auch Lisas Vater ist eines dieser Opfer. Er verschwand, sehr wahrscheinlich im Berg. Lisa besucht jenen Ort, das Tal, in dem das Militär nach der endgültigen Aufgabe aller Bergbauversuche, einen Schiessplatz einrichtete, einen Übungsplatz, sich auch wieder zurückzog und das Tal sich selber und all den Geistern überliess. Dort, wo über Jahrhunderte das Hämmern am und im Berg am Fels hallte, später das Schiessen aus allen möglichen todbringenden Rohren, eroberte sich in den letzten Jahrzehnten die Natur ihren Platz zurück. Jenes Stück Tal unweit des Dorfes wurde zu einem Refugium vieler Pflanzen und Tiere, die nur dort noch einen Lebensraum finden; Vögel, Fledermäuse, Falter, Blumen.
Sulvaschin war über die Jahrhunderte Schauplatz aller möglichen wirtschaftlichen Interessen. Selbst in der Gegenwart hätte man es gerne gesehen, im Tal mit einem Steinbruch Fels zu Geld zu machen. Lisas Vater hatte sich damals gegen die Zulassung eines solchen Steinbruchs gewehrt, stellte sich den Interessen der Dorfregierung entgegen. Und als er verschwand, förmlich vom Boden verschluckt wurde, war sein Verschwinden erst einmal Ursprung wildester Vermutungen. Lisa erforscht eben diese Höhlen, diese Löcher im Berg, diese Narben im Berg. Aber eigentlich erforscht sie auch das Verschwinden ihres Vaters, jenen seltsamen Ort unweit des Dorfes, der Blumen und Tieren eine Heimat gibt, die sonst kaum anzutreffen sind. Einen Ort, mit dem Geschichten verbunden sind, die nicht zu erklären sind. Einen Ort, wo das Unmögliche verschwindet und das Ewige zu Leuchten beginnt. Einen Ort, der über die Jahrhunderte einen Schatz versprach, den man nie fand, der mit dem Suchen danach aber nie zu leuchten aufgehört hat.
Andri Perls wunderschön gestaltetes und von Adina Andres illustrierte Erzählung ist ein funkelndes und leuchtendes Stück Literatur, dass auch sprachlich mit feinen und zarten Strichen zeichnet. Eine Erzählung, die das Mythische, Unerklärbare mit sich nimmt und die Erzählstimme in einer ganz eigenen Mischung zwischen Legende, Sage und Erzählung schweben lässt. Andri Perls Erzählung steht in einem seltsamen Kontrast zur eigentlichen Absicht der Protagonistin, die Erklärungen und wissenschaftliche Erkenntnisse sucht.
Andri Perl (1984) aus Chur ist Rapper bei Breitbild und Autor der Romane «Die fünfte, letzte und wichtigste Reiseregel» (2010) sowie «Die Luke» (2013). Perl hat an der Universität Zürich Germanistik und Kunstgeschichte studiert und ein Masterstudium in Dramaturgie an der Zürcher Hochschule der Künste absolviert. Ausserdem sitzt er für die SP im Bündner Kantonsparlament und ist ein zusehends lahmender Hobbyfussballer der Schriftstellernationalmannschaft. 2019 ist er Träger des Bündner Literaturpreises.