Der 2021 mit dem Literaturnobelpreis gekürte Abdulrazak Gurnah schrieb mit seinem Roman „Nachleben“ ein Panorama einer Familiengeschichte, eines Stücks Kolonialgeschichte und erweist sich als brillanter Geschichtenerzähler, dem man gebannt bis in die feinsten Verästelungen folgt.
„Nachleben“ ist die Geschichte zweier Askari, jenen einheimischen Soldaten, die sich im 20. Jahrhundert in den Dienst ihrer Kolonialmächte stellten und sich als „Schutztruppen“ in Afrika als elitär und privilegiert sahen, obwohl die meisten von ihnen im Kampf umkamen, an Krankheiten und Entbehrungen starben, desertierten und verschwanden.
Ilyas ist noch ein Kind, als er sein Zuhause in Ostafrika verlässt, in eine deutsche Missionsschule gerät, dort Lesen und Schreiben lernt und schlussendlich in den Dienst eines Kaufmanns gestellt wird. Aber Ilyas, der sich der deutschen Sprache mehr als verbunden fühlt, lässt sich in den Wirren zu Beginn des ersten Weltkriegs in Afrika zu eben diesen Schutztruppen anheuern, obwohl er eine kleine Schwester, die einzig Übriggebliebene seiner Familie in der Obhut jenes Kaufmanns zurücklässt. Ilyas wird Soldat, ein Askari und taucht trotz seines Versprechens an seine kleine Schwester nie mehr auf. Afyia wächst als Zurückgelassene auf, führt ein Schattendasein im Haushalt des Kaufmanns, von dessen Frau mit Argwohn beobachtet und drangsaliert.
Hamza kehrt als Verwundeter aus dem Krieg an der afrikanischen Front zurück. Als Askari gelang es ihm nur knapp, dem Gräuel, dem Tod zu entkommen. Lebensgefährlich verletzt wird er weitab vom kriegerischen Geschehen von einem deutschen Missionarenpaar gesund gepflegt, bevor er Jahre später verunsichert, scheu und traumatisiert an jenen Ort zurückkehrt, der einst sein Zuhause war. Er findet neben Arbeit bei eben jenem Kaufmann auch dessen Vertrauen. Nicht nur weil er lesen und schreiben kann und Deutsch versteht, sondern weil Hamza in seiner vertrauensseligen, ruhigen Art den unruhigen Kaufmann zu faszinieren versteht. Hamza wird zu einer Stütze in den vielfältigen Geschäften des Kaufmanns und lernt die junge Frau kennen, die wie ein Schatten im Haus seines Patrons wohnt.
Hamza und Afyia werden ein Paar. Und obwohl beide nichts als nur sich selbst besitzen und nichts in ihrem Leben in Richtung Glück zeigt, gewinnen die beiden immer mehr das Vertrauen ihres Umfelds, ziehen nach der Heirat gar ins Haus des Kaufmanns und gründen nach schmerzhaften Fehlgeburten eine kleine Familie. Der kleine Junge heisst Ilyas, so wie der verschollene Bruder seiner Mutter. Ein Umstand, der den Verschollenen in Erinnerung halten soll, so wie die Hoffnung, er würde dereinst doch noch auftauchen. Aber mit dem Namen legt sich auch ein „böser“ Geist auf den kleinen Jungen, der sich immer mehr in sich zurückzieht und von einer Stimme heimgesucht wird. Irgendwann wird klar, dass Hamza sich darum bemühen muss, nach Klarheiten um das Verschwinden seines Schwagers zu suchen, um Ruhe in seine Familie zu bringen. Aber erst als der junge Ilyas, mittlerweile selbst erwachsen zu Weiterbildungen in Deutschland unterwegs sich für seine Familie auf die Suche nach seinem gleichnamigen Onkel macht, kehrt jene ersehnte Ruhe in die Familie von Hamza und Alyia ein.
Was am Roman des Nobelpreisträgers fasziniert, ist seine Sicht auf die Geschichte, sein Erzählton und wie er mit Akribie bis in die feinsten Verästelungen hineinerzählt. Was unter Kolonialisierung auf den verschiedensten Kontinenten in den vergangenen Jahrhunderten Länder, Völker, Schicksale zerriss, ist von keiner dieser Kolonialmächte mit Ernsthaftigkeit und den entsprechenden Konsequenzen aufgearbeitet worden. „Nachleben“ ist ein Nachbeben. Er erzählt von einem gewaltsamen und blutigen Stück Geschichte, das viel zu wenig ins Bewusstsein Europas eingedrungen ist und viel lieber verdrängt wird. Abdulrazak Gurnah erzählt ohne Verurteilung, ohne Groll. Nicht einmal den Schrecken des Krieges schildert er so, wie man ihn der Geschichte entsprechend hätte schildern können, brutal und vernichtend. Abdulrazak Gurnah konzentriert sich auf die Verwundungen der Seele. Dass jede Grausamkeit ein Nachleben hat, eines, dem man sich stellen muss.
Und dann diese Meisterschaft bis ins Kleinste. Abdulrazak Gurnah beschreibt ein Panorama, aber stets mit der Perspektive hinein in das Kleine, Feine, ohne dass er das Innenleben seiner Protagonistïnnen aufbläht. Selbst Gefühle zeichnet er durch die feinen Beschreibungen ihres Tuns. Mag sein, dass man seinen Erzählstil etwas altmodisch empfindet. Für mich schreibt da einer mit grösster Sorgfalt und unendlichem Respekt für sein Personal.
Abdulrazak Gurnah (geb. 1948 im Sultanat Sansibar) wurde 2021 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet. Er hat bislang zehn Romane veröffentlicht, darunter «Paradise» (1994; dt. «Das verlorene Paradies»; nominiert für den Booker Prize), «By the Sea» (2001; «Ferne Gestade»; nominiert für den Booker Prize und den Los Angeles Times Book Award), «Desertion» (2006; dt. «Die Abtrünnigen»; nominiert für den Commonwealth Writers› Prize) und «Afterlives» (2020; dt. «Nachleben»; nominiert für den Walter Scott Prize und den Orwell Prize for Fiction). Gurnah ist Professor emeritus für englische und postkoloniale Literatur an der University of Kent.
Eva Bonné, 1970 geboren, studierte amerikanische und portugiesische Literaturwissenschaft in Hamburg, Lissabon und Berkeley. Seither übersetzt sie Literatur aus dem Englischen, unter anderem von Rachel Cusk, Anne Enright, Michael Cunningham und Abdulrazak Gurnah. Sie lebt in Berlin.
Beitragsbild © Anna Weise