Es gibt Schönwetterwanderer, zu denen ich mich zähle, die sich von wenig verheissungsvollen Wetterprognosen abschrecken lassen. Aber wenn eine grosse Gruppe Angemeldeter am Bahnhof steht, mit Rucksack und Erwartungen, dann ist ein Zurück letzte Option und die Stimmung aufgekratzt, weil der Tag kalkuliertes Abenteuer verspricht. Was dann auch geschah!
Die „Literarische Wanderung“, mit der das Internationale Literaturfestival jedes Jahr beginnt, ist für einen Grossteil der Teilnehmenden zu einem fixen Bestandteil ihres Besuchs in den Walliser Bergen geworden. Heuer begleitet von Ariane von Graffenried, Dichterin und Performerin und Karl Rühmann, Schriftsteller und Übersetzer.
Von Graffenrieds Texte kippen vom Konkreten ins Poetische und zurück, mal Deutsch, mal English, mal Dialekt, sie ist eine Geschichtenerzählerin des Geheimen und Verborgenen, eine ebenso raue wie galante Berichterstatterin aus den Halbwelten des Mondänen, eine literarische Umgarnerin der provinziellen Unterwelt.
Karl Rühmann las aus seinem Debütroman „Glasmurmeln, ziegelrot“, einem Roman schillernd wie durch eine Glasmurmel betrachtet, ein eigentliches Geschichtenbuch, poetisch, mosaikartig erzählt, aus schimmernden Miniaturen, die sich zu einem wunderbaren Ganzen fügen. Von einem Kind, manchmal in der ersten, manchmal in der dritten Person, oft im gleichen Abschnitt wechselnd, was dem Text etwas Flimmerndes gibt und ihn weit wegträgt von Selbstreflexion.
Die Wanderung über Alpwiesen, deren Blumenpracht mich manchmal stolpern liess, über das ehemalige Waldbrandgebiet, jene 300 Hektaren Wald, die vor 20 Jahren den Schutzwald über dem Städtchen Leuk vernichteten, den man erst aufforsten wollte, sich dann aber entschloss, Gefahrenstellen zu sichern und die Brandfläche mehr oder weniger sich selbst zu überlassen. Was damals eine Katastrophe war, erwies sich für die Natur als Glücksfall. Pfanzen und Tiere eroberten sich die Brandfläche zurück, neben den verkohlten Relikten eines Infernos gedeihte bald Neues, Unverhofftes, wächst 20 Jahre danach ein Stück Natur, das in seiner Vielfalt und Eigenheit überrascht.
So wie die Literatur in Leukerbad überrascht! Kunst, die sich permanent erneuert, die sich den Fragen der Gegenwart stellt und in der bröckelden Kulisse menschlicher Sehnsucht nach Erholung und Zerstreuung einen manchmal surrealen Kontrapunkt setzt, wenn es um die (Neu-)Ausrichtungen menschlichen Zusammenlebens geht, um Perspektiven und spachgewordene Utopie.
Joachim Sartorius, Lyriker, Übersetzer, Herausgeber und Erzähler, schildert in seinem Buch „Die Versuchung von Syrakus“ seine ganz eigene Auseindersetzung mit einer Stadt, die im Wandel der Jahrhunderte von einer griechischen Siedlung mitten im Sumpfgebiet zur bedeutendsten Metropole am Mittelmeer wurde, zu einem Nabel der Welt, einer Stadt, in der sich wie selten die Kulturen in Stadt und Umgebung ablesen lassen, einer Stadt, in der sich der Dichter nicht eigentlich zurückzieht, sondern abtaucht in die Sedimente der Zeit, in die Stein und Papier gewordene Historie, in ein Erbe, das der Schönheit huldigt, ob in Architektur, Musik, Literatur oder des Zusammenschmelzens verschienster Kulturen bis in den Friseurladen in der Via Roma oder in den Palast von Baron Lucio Tasca di Lignari, vorbei am Dom von Syrakus ins „Trümmerfeld einer einstigen Megastadt“. Joachim Sartorius’ Buch ist das Gegenteil eines Städtereiseführers. Sartorius zeigt, was geschieht, wenn man sich tatsächlich auf einen Ort einlässt, wenn man abtaucht und die Stadt zu einer Vertrauten macht. Er macht seinen Sehnsuchtsort zu einem der meinigen!
So wie Joachim Sartorius eine Stadt zum Tor einer Jahrhunderte langer Menschheitsgeschichte macht, so tief brennt die in Genf geborene und in Paris lebende Schriftstellerin Pascale Kramer in die Abgründe menschlichen Lebens. Ihr neustes Meisterstück «Eine Familie» nimmt sich nicht zum ersten Mal der Keimzelle allen Glücks und aller Katastrophen an. Es ist das eigentliche Thema der grossen Autorin, der im deutschen Sprachraum nicht jene Bedeutung zugesprochen wird, die sie verdienen würde. Aber wer einmal an den Kramer’schen Kosmos angedockt hat, der weiss, wie feinsinnig, treffend und sprachlich gekonnt die Schriftstellerin zeigt, was in den unendlich vielen Verschiebungen im Biotop Familie angerichtet werden kann. Pascale Kramer leuchtet in die Schatten einer Familie. Sie tut das mit derart viel Sympathie für ihre eigenen Figuren, dass man sich wünscht, ihr Verständnis wäre das eigene. Pascale Kramer zieht mich in einen literarischen Strudel, dessen Zug sowohl sprachlich wie von innenfamiliärer Dramatik beschleunigt wird. Wer den Kosmos Kramer noch nicht betreten hat, wer die grosse Schriftstellerin noch nicht entdeckt hat – «Eine Familie» ist alle Familien!