Zuerst holt Almut Birnschein eine Schneekugel aus dem Pappkarton, dann einen Kerzenständer, danach einen Nussknacker. Die Schneekugel stellt sie auf die Kommode, den Kerzenständer auf das Klavier und den Nussknacker auf den Tisch. Almut Birnschein greift wieder in den Karton und zieht einen Strohstern heraus. Den befestigt sie am Fenster. Kurz schaut sie durch die Scheiben auf den Dorfplatz, auf den heute erster Schnee gefallen ist. Als Almut Birnschein erneut in den Karton greift, findet sie einen Schlüssel. Und den kennt sie nicht. Oder doch: Den kennt sie sehr gut. Almut Birnschein denkt an Bruno Karney. Und jetzt muss sich Almut Birnschein erst einmal setzen.
Als Bruno Karney vor zwanzig Jahren an einem Tag Ende November verschwand, geriet Almut Birnscheins Leben für einige Zeit ins Wanken. Die Polizei hatte damals mitgeteilt, dass Menschen manchmal verschwänden, weil sie verschwinden wollten und das natürlich auch dürften. Das komme gar nicht selten vor. Ob sich Bruno Karney zuletzt seltsam verhalten habe, fragte die Polizei, und Almut Birnschein konnte nicht mit einem Nein antworten. Wie lange, fragte die Polizei weiterhin, seien Almut Birnschein und Bruno Karney doch gleich ein Paar gewesen? Eine etwas zu lange Pause. Na also, sagte die Polizei und wunderte sich über gar nichts mehr. Was dann folgte: Am ersten Adventssonntag war Almut Birnschein traurig, am zweiten hoffnungsvoll, am dritten grellfröhlich, am vierten zornig. Weihnachten war leer wie ein trockener Brunnenschacht, das neue Jahr leer wie Nebel. Und bald war Almut Birnscheins Welt wieder gut, auch wenn Bruno Karney ihr abhanden gekommen war.
In der Hand der Schlüssel. Wie lange er in dem Karton mit der Adventsdekoration gelegen haben mochte? Schon zwei Jahrzehnte? Sogar länger? Oder hat Bruno Karney den Schlüssel etwa erst kürzlich auf geheimnisvolle Weise dort versteckt, wo ihn Almut Birnschein finden musste? Ein schlichter Schlüssel. Klein. Aus Metall. Schmucklos, aber spezifisch. So spezifisch, dass Almut Birnschein dies sagen kann: Der Schlüssel gehört zu Bruno Karneys Schreibtisch, und dieser befindet sich in der Stadt, in der Bruno Karneys Elternhaus steht, und in diesem lebt bis heute Bruno Karneys Schwester Antonia Karney, und zu der fährt Almut Birnschein jetzt hin, selbst wenn die Fahrt mit dem Zug ein paar Stunden dauert.
Bruno Karney, der Wissenschaftler. Biologe, Schwerpunkt: Mikrokosmos. Eine Begeisterung für das Winzige, die Almut Birnschein als Musikwissenschaftlerin nie geteilt hat, nicht teilt. Sie liebt es, wenn sich die Töne hinauf zum Grossen schwingen und der Klang eine ganze Welt umarmt. Bruno Karney wiederum ging ganz darin auf, ins Allzukleine vorzudringen. Seine Welt war die der mikroskopischen Amöben, der elektronenmikroskopischen Strukturen. Und doch, so hatte er wieder und wieder geschworen, gehörte auch Almut Birnschein zu seiner Welt. Neben seiner Liebe für alles Kleine, gab es ganz selbstverständlich diese grosse Liebe zu Almut Birnschein. Wiederum neben diesen zweierlei Lieben fand noch eine dritte Leidenschaft Platz: Bruno Karney liebte Musik. Konzerte liessen ihn mal erstarren, mal lösten sie ihn geradezu auf. In seine Einzelteile.
Zwanzig Jahre verdrängte Gedanken an Bruno Karney begleiten Almut Birnschein bei der Zugfahrt. Draussen kippt das Helltrübe ins Dunkelfestliche. Trotz des Schnees alles schwarz, aber mit einem Leuchten geschmückt. Dieses Leuchten schwillt an, je näher Almut Birnschein der Stadt kommt. Am Hauptbahnhof steigt sie aus.
Die Stadt, in der Bruno Karney aufgewachsen ist, hat alles, was Städte haben. Nicht nur ein Theater gibt es und ein Puppentheater, sondern auch ein Opernhaus mit grossem Orchester. Almut Birnschein hatte hier schon viele Konzerte zusammen mit Bruno Karney gehört. Der Direktor Maurice Fussbremer ist ein guter Freund. Er ist immer ein guter Freund geblieben, der Maurice Fussbremer.
Zwei verschneite Strassen hinter der Oper steht Bruno Karneys Elternhaus. Almut Birnschein klingelt. D-Dur kippt in Des-Dur. Lange nicht gehört, diese Klänge, bei denen man nie weiss, ob die Aufhebung der tonalen Einheit auf Gedankenlosigkeit oder Kompositionsgenie zurückzuführen ist. Früher waren Almut Birnschein und Bruno Karney oft gemeinsam in diesem Haus. Denken konnte er nur in seinem alten Zimmer, hatte Bruno Karney erklärt. Fühlen nur im Konzertsaal. Und wachsen nur im Dorf bei Almut Birnschein.
Die Tür geht auf. Antonia Karney lächelt und bittet Almut Birnschein hinein. Es riecht nach Plätzchen, aber auch nach Einsamkeit. Ein stilles Haus. Ungewohnt still. Dafür, dass hier eine Tonmeisterin lebt. Antonia Karney war bereits für Aufnahmen bedeutender Orchester in Übersee verantwortlich. Darunter Einspielungen, die auch nach Jahrzehnten noch als Referenz gelten. Die Musikwissenschaftlerin Almut Birnschein legt den Schlüssel in die Hände der Tonmeisterin Antonia Karney. Und Antonia Karney nickt.
Treppauf. Hier ist Bruno Karneys früheres Kinderzimmer. Es sieht nicht nach Kindheit aus. Sah es nie. Ein gewaltiger Schreibtisch. Fünf verschliessbare Schubladen. Vier Schlüssel stecken. Einer fehlt. Die Frauen sehen sich an. Antonia Karney steckt den neu entdeckten Schlüssel ins leere Schloss und schliesst. Almut Birnschein zieht die Schublade auf. Ein Heft. In Bruno Karneys unverkennbarer Handschrift steht darauf: Jenseits von pppp. Aha, sagt Antonia Karney. Almut Birnschein sagt: Still.
Sie lesen beide und staunen nicht schlecht. Der Lebensgefährte, der Bruder – Bruno Karney – war nämlich in den Tagen vor seinem Verschwinden einer Spur gefolgt, die mit wissenschaftlichem Anspruch zwei seiner Leidenschaften zu verbinden versprach: den Mikrokosmos und den Kosmos der Musik. So, wie sich die Perspektive auf das Leben verändern liess, indem man das Winzige mit dem Vergrösserungsglas betrachtete, müsste doch auch die Akustik zu ergründen sein, hatte Bruno Karney geglaubt. Das, was das menschliche Auge nicht sieht, kann durchaus belebt sein. Und das, was das menschliche Ohr nicht hört – ist das nicht auch ein verborgener Kosmos? Sicher: Die Physik hat den Schall längst ergründet. Doch was war mit dem in der Musik Verborgenen? Bruno Karney wollte konkret wissen, was bei einer Komposition unhörbar bleibt und doch vorhanden ist. Piano. Pianissimo. Pianopianissimo. Und dann? Welche Stille liegt in diesem Universum jenseits von pppp?
Almut Birnschein und Antonia Karney stehen vor dem Schreibtisch von Maurice Fussbremer und fassen die Gedankengänge von Bruno Karney zusammen. Die Stirn in Falten schlagend und die Ausführungen als schön und gut bezeichnend, verweist Maurice Fussbremer auf das Weihnachtsoratorium und die Adventsprogramme, die ihm als Direktor eines Opernhauses alle Nerven raubten. Dann sei bald Spielzeitpause. Was auch immer Almut Birnschein und Antonia Karney mit ihm und seinem Orchester vorhätten – er müsse ablehnen. Dann erst sagen die beiden, was sie genau mit Maurice Fussbremer und mit seinem Orchester vorhaben, woraufhin sich Maurice Fussbremer wild durch die Haare fährt und laut flucht. Nein, sagt er. Nochmals nein, sagt er. Und dann sagt er: Also gut.
Tschaikowski. Da wäre in der sechsten Sinfonie ein Fagott im stattlichen sechsfachen Piano. Oder die berühmten vier Minuten und dreiunddreissig Sekunden Stille von John Cage. Almut Birnschein will aber Mahlers Neunte, woraufhin Maurice Fussbremer wieder flucht. Ob denn Almut Birnschein wisse, wie lange es bitteschön her sei, dass Maurice Fussbremer die Neunte zur Aufführung gebracht habe. Das weiss Almut Birnschein nicht. Will es auch nicht wissen. Was sie will, ist die Neunte.
Es ist der Abend vor der heiligen Nacht. Das Orchester ist nicht vollständig. Es sind nicht alle Piccoloflöten da, nicht alle Klarinetten. Auch die Streicher sind etwas fadenscheinig. Die Neunte wird löchrig klingen und weniger zwitschern. Doch es soll reichen. Almut Birnschein konnte Maurice Fussbremer ausreden, gleich mit dem letzten Satz zu beginnen. Also beginnt Mahlers Neunte dort, wo sie eben anfängt. Mit dem Anfang.
Die Tonmeisterin Antonia Karney hat allerlei Mikrofone zwischen den Musizierenden aufgebaut und sitzt nun zusammen mit Almut Birnschein vor einem Monitor im Zentrum des Klangs. Die Musik bildet ein wildes Muster an Wellenbergen und Wellentälern. Schallwellen. Wellenreiten. Unter Kopfhörern tauchen Almut Birnschein und Antonia Karney durch die Sinfonie. Andante comodo. Im Tempo eines gemächlichen Ländlers. Rondo-Burleske.
Maurice Fussbremer schaut auf seine Uhr. Gleich Mitternacht. Ein Seufzen. Und dann der vierte, der letzte Satz. Jeden Ton dieser Sinfonie liebt Almut Birnschein. Sie bewegt sich durch die Komposition wie durch vertraute Strassen. Leiser. Die Musik wird, je näher das Ende des Satzes kommt, spürbar leiser. Antonia Karney dreht die Mikrofone einfach lauter. Die abschwellenden Wellen auf dem Monitor, die eben schon sanfter wurden, schlagen nun wieder heftig aus.
Dann ist es da. Das Hinübergleiten. Das Driften. Das Adagissimo. Die Lautstärke des Orchesters wird zurückgenommen. Immer mehr. Immer stärker. Und je leiser alles wird, desto stärker dreht Antonia Karney die Mikrofone lauter. Wellenberge. Wellentäler.
Das vierfache Piano. Kaum noch zu hören. Antonia Karney dreht auf. Ist das noch Musik? Antonia Karney dreht weiter auf. Noch streichen die Bögen die Seiten, doch ist tatsächlich noch etwas zu hören? Antonia Karney dreht immer weiter auf. Selbst dann, als im Orchester niemand mehr spielt, alles stillsitzt, schweigt, die Instrumente ruhen, dreht Antonia Karney am Regler für die Lautstärke.
Und tatsächlich: Die Musik geht weiter. Im Stillen. Im bisher Verborgenen. Auf dem Monitor tanzt der Mikrokosmos der Schallwellen. Da ist Klang. Da ist etwas. Und kurz bevor Antonia Karney nicht mehr lauter kann, und kurz bevor auch die letzte Schallwelle bricht und in sanfter Brandung angespült wird, zwickt Antonia Karney Almut Birnschein in den Oberschenkel und zeigt auf den Bildschirm. Dort, ganz klein auf der nun schon beinahe geraden Linie ist etwas. Da ist wer. Antonia Karney dreht bis zum Anschlag auf und macht auf dem Monitor sichtbar, was sonst zu winzig für jedes Ohr war.
Er ist da. Er lächelt ihnen auf dem Monitor entgegen, gefangen, doch wohl nicht unglücklich, hockt er da in der Neunten, Bruno Karney, und winkt.
Sebastian Görtz, geboren 1980 in Halle (Saale). Studium der Germanistischen Literaturwissenschaft, Kunstgeschichte und Zeitgeschichte. Arbeit für verschiedene Museen, seit 2014 als Geschäftsführer eines Museumsverbundes. Seit mehreren Jahren literarische Texte für Zeitschriften und Sammelbände.
Beitragsbild © Sandra Kottonau