Percival Everett «James», Hanser

„Adventures of Huckleberry Finn“ von Mark Twain erschien vor 150 Jahren und zählt zu den Schlüsselwerken US-amerikanischer Literatur. Während Twain die Abenteuer aus der Sicht von Huck Finn erzählt, traut sich Percival Everett, selbst schwarzer Amerikaner, die Geschichte aus der Sicht des Sklaven Jim zu schildern. Ein Roman, der bis ins Mark geht!

Es gibt Geschichten, die ins kollektive Bewusstsein rutschen, so wie die immer und immer wieder erzählte Geschichte vom noch jugendlichen Huckleberry Finn und dem gejagten Sklaven Jim. Sei es in mehr oder minder gelungenen Verfilmungen oder in immer neu edierten Ausgaben (Die letzte, die ich mir kaufte, war die von Tatjana Hauptmann wunderbar illustriert, bei Diogenes 2002 erschienen). Aber gerade jene von 2002 liest sich wie ein lustig, rasantes Abenteuer, bei dem der eigentliche Schrecken jener Zeit nur nebelhaft in Erscheinung tritt, auch wenn die eine oder andere Szene blutig untermalt ist. Ohne den Roman von Mark Twain zu schmälern, bleibt die Sicht auf Rassisimus eine weisse, selbst dann, wenn Twain die Ungerechtigkeit unmissverständlich schildert. Diese Erzählweise zementiert ein westliches Empfinden, jenes der Zuschauenden, nicht direkt Betroffenen. Aber Percival Everett ist ganz direkt betroffen; vom zukunftslosen Schicksal eines Gejagten, von zu Unrecht beschuldigten Sklaven, von der Unumstösslichkeit einer kollektiven Schuldzuweisung, von grenzenloser Arroganz, von einem Land, das Rassismus bis in die Gegenwart nicht abzuschütteln weiss und nicht zuletzt von einer amerikanischen Geschichte, in der Menschenverachtung zum politischen Programm werden kann.

Jim ist mit seiner Familie Sklave in einem kleinen Dorf am Mississippi. Obwohl seiner Herrin Miss Watson „treu“ ergeben, bekommt er mit, wie beschlossen wird, ihn nach New Orleans zu verkaufen, ihn allein, ohne seine Frau und seine Tochter. Jim flieht auf eine kleine Insel auf dem Mississippi, wo er Huck trifft, den er schon ein Leben lang kennt, der sich wie Jim auf der Insel zu verstecken versucht. Huck fürchtet sich vor seinem prügelnden Vater so sehr, dass er um sein Leben bangt. Und als Jim genau jenen Mann, vor dem sich Huck so sehr fürchtet, nach einem Unwetter in den Überresten eines fortgespülten Hauses findet, werden aus den beiden Fluchtgefährten; Jim, weil man ihm den Tod von Hucks Vater in die Schuhe schieben will und das zusammen mit seiner Flucht für den Strick reicht und Huck, weil ihm Jim verschweigt, dass die Leiche in jenen Trümmern, die seines Vaters ist, ein Verschweigen, dass Gründe hat, die Jim ganz nah an den Jungen binden. Es ist aber auch der naive Blick des Jungen, die Beteuerungen seiner Freundschaft, die Jim schmeicheln, er, der aus weisser Sicht nie mehr als ein dummes Arbeitstier war. 

Percival Everett «James», Hanser, 2024, aus dem Englischen von Nikolaus Stingl, 336 Seiten, CHF ca. 37.90, ISBN 978-3-446-27948-3

Die beiden schustern sich ein Floss zusammen und lassen sich gen Süden auf dem Mississippi treiben, eigentlich in die gänzlich falsche Richtung, immer weiter weg vom Norden, in dem die Sklaverei längst als unrechtens erklärt wurde. Sie hangeln sich von Krise zu Krise, von einer zur nächsten Katastrophe, verlieren sich immer wieder, um sich aber auch immer wieder glücklich wiederzufinden, wachsen zu viel mehr als einer Schicksalsgemeinschaft zusammen, als Jim Huck von seiner Herkunft erzählt.

Was die Besonderheit dieses Romans ausmacht, ist aber viel mehr als die Erzählperspektive. Everett lässt den Sklaven Jim erzählen. Jim kann lesen und schreiben, hat sich das selbst beigebracht, sass in all den Jahren im Dienst von Mrs. Watson und Richter Thatcher immer wieder in dessen Bibliothek und „lieh“ sich das eine oder andere Buch aus, auch das eine oder andere Mal einen Voltaire. Überhaupt haben sich die Schwarzen in Everetts Roman eine Art Geheimsprache zuglegt, die sie immer dann verwenden, wenn sie mit den Weissen zu sprechen gezwungen sind oder wenn sie wissen, dass man ihnen zuhört. Eine Sprache, die nicht nur ihre Einfachheit, ihre gespielte Dummheit untermalt, sondern die Herrenrasse glauben lassen soll, es drohe keine Gefahr von den willenlosen Arbeitstieren. Huck ist der Naive. Er spürt zwar sehr gut, dass die Welt, in der er lebt, nicht so ist, wie sie aus seiner Sicht sein sollte. Aber er weiss sich nur schwer zu helfen, sucht nach Erklärungen. Auch im seltsamen Gehabe seines schwarzen Freundes, der immer wieder einmal in seinen Träumen ganz anders laut mit sich selber spricht. 

Im Hintergrund des Romans beginnt der US-amerikanische Bürgerkrieg zwischen Norden und Süden. Ein Krieg für oder gegen die Sklaverei. Ein Krieg, der Huck fasziniert und Jim seltsam kalt lässt, weil er ein Leben lang seine Rolle als Sklave verinnerlichte und die Geschichte, die er mit einem Bleistiftstummel in ein Buch schreibt, nur ganz zaghaft zu einer Befreiungsgeschichte wird und erst mit dem letzten Satz im Roman zu einer solchen wird.
„James“ ist bei weitem nicht einfach eine nacherzählte Geschichte. „James“ ist amerikanische Geschichte, die schonungslos erzählt, was Mark Twain vor 150 Jahren in seiner Welt nicht konnte.

Percival Everett, geboren 1956 in Fort Gordon/Georgia, ist Schriftsteller und Professor für Englisch an der University of Southern California. Er hat bereits mehr als dreissig Romane veröffentlicht. Für sein Werk wurde er mit zahlreichen Preisen geehrt, u. a. mit dem PEN Center USA Award for Fiction, dem Academy Award in Literature der American Academy of Arts and Letters, dem Windham Campbell Prize und dem PEN/Jean Stein Book Award.

Nikolaus Stingl, 1952 geboren, übersetzte u. a. William H. Gass, Ben Lerner, Thomas Pynchon, Colson Whitehead und Emma Cline und wurde mit mehreren wichtigen Übersetzerpreisen ausgezeichnet.

Beitragsbild © Michael Avedon