Wir sind mehr als die Summe unserer Teile, müsste man der Autorin entgegenhalten, wenn der Titel nicht Programm und Provokation gleichzeitig wäre. Paola Lopez› Debüt ist eine Familiensaga, die Geschichte dreier Generationen aus der Sicht ihrer Frauen. Ein Roman darüber, dass unser Leben immer auch auf ganz vielen Leerstellen gebaut ist. Eine Tatsache, die mit einem Mal alles aus scheinbarem Gleichgewicht bringen kann.
Grossmutter Lyudmiła war in Beirut angesehene Chemikerin, ihre Tochter Diara ist Kinderärztin in München und die Enkelin Lucy, Informatikstudentin in Berlin. Ihre Geschichten, die Geschichten ihrer Familie werden aus der Sicht dieser drei Frauen erzählt, starker Frauen, die alle in ihrem Leben, ihren Ansprüchen einer ordentlichen Portion Kompromislosigkeit „unterworfen“ sind.
Dreh- und Angelpunkt des Romans ist der Sommer 2014. Lucy hofft auf einen angenehmen Sommer und dass sie es endlich schafft, zusammen mit Phil, ihrer WG-Mitbewohnerin ihr Computerspiel fertigzustellen. Aber als sie nach Hause kommt, steht da ein schwarzer Steinway-Konzertflügel in ihrem Zimmer, ein glänzendes Ungetüm, das alles zu verdrängen scheint, zugeschickt von ihrer Mutter, mit der sie seit drei Jahren keinen Kontakt mehr hat. Mit einem Mal zwingt dieses Ungetüm Lucy, sich mit ihrer Familie auseinanderzusetzen, all dem Unausgesprochenen, den Geheimnissen, von denen sie Ahnungen mit sich herumträgt, die aber nie zu Gewissheiten wurden. So sehr der Konzertflügel das schwarze Loch in ihrer Familie symbolisiert, so sehr treibt dieser Flügel Lucy auf eine Reise, eine Reise in die Vergangenheit, eine Reise ins polnische Sopot, wohin ihre Grossmutter einst als zwölfjähriges Mädchen „abhaute“.
Ihr ganzes Leben hat sie in einem Raum verbracht, den zu kennen sie geglaubt hat. Und jetzt entdeckt sie eine geheime Tür, die die ganze Zeit über da gewesen ist.

Grossmutter Lyudmiła stammt aus Polen und wollte nichts anderes werden als Chemikerin. Marie Curie war ihr grosses Vorbild. Nichts und niemand sollte diesem Ziel im Weg stehen. Der Krieg vertreibt sie aus ihrer Heimat. Lyudmiła wird in Beirut zu einer gefragten Wissenschaftlerin, heiratet einen Kollegen und ist wegen einer Schwangerschaft gezwungen, ihrem Mann nach Deutschland nachzureisen. Daria, ihre Tochter, wächst auf mit dem Gefühl, stets nur Nebensache zu sein, wird von einer Nanny grossgezogen und lässt die Beziehung zu ihrer Mutter erkalten. Als sie mit Lucy schwanger ist, schwört sie sich nicht nur selbst, dass sie ihre Tochter nicht in fremde Obhut geben werde. Ein Entschluss, den sie vor der dominanten Mutter immer und immer wieder verteidigen muss.
Lyudmiła wuchs in Polen auf, studierte in den USA und forschte in Beirut. Ihre Tochter eröffnet in München eine Gemeinschaftspraxis. Lucy, die Abkürzung von Lyudmiła, sagt von sich selbst, sie sei halb Deutsche, ein Viertel Libanesin, ein Viertel Polin. Alle drei Frauen erzählen ein Stück Leben, das von Unruhe geprägt ist, von der Unfähigkeit, die Geschichte der Familie von Generation zu Generation weiterzugeben, im Schweigen stecken zu bleiben, keine Sprache für die ganz eigene Vergangenheit zu finden – und sie nie teilen zu können.
Lucy lernt auf ihrem Tripp nach Sopot im Zug Władek kennen, einen jungen Mann der tagsüber sein Geld als Schaffner verdient und nachts Platten auflegt und Musik produziert. Lucy ist fasziniert und lässt sich nur zu gerne von dem jungen Mann aus der Reserve locken. Er ist der, der die Fragen stellt, die sie sich nicht einmal selbser zu stellen traut. Sie ruft dann doch ihre Mutter an. Und mit einem Mal ist Diara in der Stadt, dort, wo Lucy sie niemals erwartet hätte. Und es beginnt das, was Krusten aufreisst und Lucy ihre Familie zurückgibt.
Eine umfassende Grammatik der Familie bekommt man nicht geliefert. Man muss selber danach suchen und die unvollständigen Brocken, die man findet, zu einem Gesamtbild zusammenkratzen.
„Die Summe unserer Teile“ ist Familien- und Mutter-Tochtergeschichte. Geschickt verwoben drei vehemente Frauengeschichten, die sich auszuschliessen drohen, denen die Stimme zu versagen droht, wenn es um das geht, was die Ungleichung Familie ausmacht. Ein Buch darüber, dass der Versuch einer Gleichung nur aufgehen kann, wenn alle Variablen sichtbar sind. Ein Buch darüber, dass das Wohin erst sichtbar wird, wenn das Woher sich zeigt. Ein Roman, in dem sich Gegenwart und Vergangenheit auf raffinerte Weise ineinanderschieben.
Paola Lopez, geboren 1988 in Wien, ist Mathematikerin und promoviert interdisziplinär über Künstliche Intelligenz. Derzeit ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Bremen und schreibt für den Merkur eine Kolumne zu KI. Für die Arbeit an ihrem Debütroman «Die Summe unserer Teile» wurde sie mit dem Theodor Körner Preis 2023 gefördert. Paola Lopez lebt in Berlin.
Beitragsbild © Schore Mehrdju