Lieber Gallus
Voll Freude ging ich an die Lektüre des neuen Romans dieser von mir geschätzten Autorin. Ich habe das Buch mit Fieber, Gliederschmerzen und Husten im Rahmen einer Sommergrippe gelesen. Vielleicht sind meine Eindrücke dadurch beeinträchtigt.
Kurz zusammengefasst hat mich dieses Buch ratlos und verwirrt nach der Lektüre zurückgelassen. Was ist die Aussage, was will die Autorin mir vermitteln?
Es gibt historische Hinweise, eher angedeutet, zwei Hauptstränge; Archivar Schibig und die «Alte» einerseits, dann Herr Kern und dessen fast 100jährige Mutter. Das Buch beginnt mit einem Toten in einem zugefrorenen See, wie ein Krimi. Dunkle Machenschaften um Geld und Macht. Nichts läuft je ins Leere, alles hängt zusammen, so die «Alte», hat mir nicht geholfen.
Ich bin sehr gespannt, wie du die Lektüre erfahren hast. Wirf mir den erhellenden Anker!
Herzlich
Bär
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Lieber Bär
Als das Buch zu mir nach Hause kam, schnappte es sich zuerst meine Frau. Schon an ihren nonverbalen Verlautbarungen während der Lektüre spürte ich, wie sehr sie das Buch packte. Kaum hatte sie es zu Ende gelesen, machte ich mich daran. Zugegeben, wenn ich von Schriftsteller*innen lese, die ich persönlich kenne, mit denen ich schon bei Lesungen oder ähnlichen Veranstaltungen mitdiskutierte, mag die Objektivität über das Gelesene beeinflusst sein, vielleicht sogar eingeschränkt. Einmal mehr liess ich mich begeistern. Dein Urteil überrascht mich nicht wirklich, weil ich der Überzeugung bin, dass das nicht das erste Buch der Autorin ist, das ein prägnantes Urteil provoziert. Das mag an der Art liegen, wie sie mit ihren Themen umgeht, wie sie die Geschichten, das Personal spielen lässt. Das mag auch daran liegen, dass Martina Clavadetscher von Leser*innen einiges abverlangt. Ihre Bücher sind keine offenen Schaukästen. In jedem ihrer Bücher lädt sie mich ein, weiterzudenken, weiterzuforschen. Türen bleiben verschlossen, wenn man sich nicht selbst daran macht, sie zu öffnen.

Immer wieder drückt Geschichte durch die Bücher von Martina Clavadetscher. Diesmal ein Stück Vergangenheit – scheinbar. Denn die Vergangenheit zieht ihre Fäden bis in die Gegenwart. Was im Mai 1945 mit der Kapitulation Nazideutschlands ein Ende fand, war damals nicht wirklich zu Ende. Nur wenige der faschistisch gesinnten Entscheidungsträger damals wurden gerichtlich zur Verantwortung gezogen. Ganz viele tauchten unter, nahmen eine neue Identität an, flohen ins Ausland. Nicht wenige von diesen glaubten, ihre Ideen würden dereinst wieder auferstehen, finanziert von Bankkonten, die man als harmlose, menschenfreundliche Kassen getarnt hatte. Geld all jener, mit denen man im und mit dem Krieg Geld verdient hatte. Geld all jener, die man während der Macht der Faschisten enteignet, eingesperrt und umgebracht hatte. Und wer heute offenen Auges in die aktuelle Politik sieht, reibt sich immer wieder die Augen, wie etabliert gewisse Ideen, Äusserungen und Absichten wieder geworden sind, wie offen man 80 Jahre nach der Kapitulation wieder seine faschistische Gesinnung zeigen kann. Diese Thematik ist in Martina Clavadetschers Buch unüberhörbar.
Aber noch viel mehr. Auch das nicht zu tilgende Lebensmotto „Der Zweck heiligt die Mittel“. Oder der Glaube daran, dass eine Stammlinie in der Familientradition um jeden Preis weitergeführt werden muss. Dieses völlig antiquierte Verständnis von Familie. Herrlich, wie die greise Matriarchin unter dem Dach der Villa noch immer versucht, mit allen nur erdenklichen Mitteln die Geschicke der Familie zu leiten. Dass Familie doch eigentlich etwas ganz anderes ist, ist weit davon entfernt. Und dann der „arme“ Herr Kern; lendenlahm, sehbehindert, diktiert von seine Mutter, herablassend behandelt von seiner Frau Hanna, instrumentalisiert von seiner elitären Clique. Der alte Mann – ein armes Schwein. Ich habe mich auf seine Kosten köstlich amüsiert. Hier spürt man die Theaterfrau. Ich sehe die Kern’sche Villa wie ein offenes Puppenhaus, in dem sich existenzielle Dramen abspielen.
Und dann noch Schibig und die «Alte»…
Lieber Bär, nicht immer trifft ein Buch meinen Nerv. Nicht immer deinen Nerv. Deine Ratlosigkeit bescheinigt dem Buch immerhin, dass es nicht nur einfach unterhalten will.
Liebgruss
Gallus

Martina Clavadetscher geboren 1979, ist Schriftstellerin und Dramatikerin. Nach ihrem Studium der Deutschen Literatur, Linguistik und Philosophie arbeitete sie für diverse deutschsprachige Theater, war für den Heidelberger Stückemarkt nominiert und zu den Autorentheatertagen Berlin 2020 eingeladen. Für ihren Roman «Die Erfindung des Ungehorsams» wurde sie 2021 mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnet. Sie lebt in der Schweiz.
