Hansjörg Schertenleib ist ein Unermüdlicher. Seit mehr als vier Jahrzehnten reiht er Buch an Buch, schreibt Theaterstücke, übersetzt und scheut sich nicht, eine leidenschaftliche Diskussion darüber zu führen, was Literatur ist, was gute Literatur ist. Hansjörg Schertenleib schreibt von den zarten Dingen in einer äusserst starken Sprache, beschreibt Innenwelten und Aussenwelten mit kräftigen Farben und macht mir bewusst, das Schreiben eine Form des Sehens ist.
Vor bald dreissig Jahren wanderte Hansjörg Schertenleib nach Irland aus, in den Nordwesten, nach Donegal, in eine archaische Gegend, dem Wetter ausgesetzt, in ein freistehendes Schulhaus auf einem sanften Hügel. Mehr als zwei Jahrzehnte lebte er dort, schrieb und erlangte irgendwann gar die irische Staatsbürgerschaft.
Sein neustes Buch erzählt von dieser Zeit, auch wenn die Handlung fiktionalisiert ist und es die Geschichte eines Mannes ist, der allein sein Leben in Donegal beginnt. „Schule der Winde“ ist die Geschichte eines Mannes, der neu beginnen will, nicht weil sein altes Leben gescheitert wäre, sondern weil ihn ein Leben lockt, dass so ganz anders sein soll, als jenes in seinem beengenden Heimatland.
Er zieht in ein Haus mit Geschichte. Zum einen ein Schulhaus, zum andern ein Wohnhaus, gekauft von einem Ehepaar, das fast alles in dem Haus zurückliess. In ein Haus, das Geschichten erzählt, an einen Ort, an dem der Wind Geschichten zum Haus trägt. Ein Ort, der ihn öffnet, der ihm das Schreiben leicht macht.
„Wird ihm das Leben in der Fremde helfen, irgendwann zu wissen, was er sieht, statt zu sehen, was er weiss?“
Hansjörg Schertenleibs Buch ist kein Roman, entzieht sich einer Gattung, ist ganz und gar nicht plottorientiert. Aber „Schule der Winde“ ist voller Geschichte und Geschichten. Hansjörg Schertenleib schreibt nicht nur von dem Mann, seinen Erkundungen nach innen und aussen. Er schreibt von den Geschichten, die ihm das Haus erzählt, Lebensgeschichten von ehemaligen Schülerinnen und Schülern, Dialogen aus den Pubs der Umgebung, Erlebnisse mit Nachbarn, auch wenn es solche gibt, die ihn nie in ihr Leben einlassen. Hansjörg Schertenleib taucht in die Geschichte eines Landes ein, das über Jahrzehnte und Jahrhunderte von blutigen Konflikten zerrissen wurde. Er erkundet Menschen, Landschaft, die Sprache, die Tiere ums Haus, z. B. Krähen, aber auch die Landschaften, Räume und die Sprache in ihm selbst.
Der eigentliche Protagonist des Buches ist die Sprache. Überaus sinnlich, glasklar, nie verklärend, nie aufbauschend und effekthaschend. Ehrlich und poetisch, musikalisch und präzis.
Hansjörg Schertenleib beschreibst äusserst stimmungsvoll. Man sieht nicht nur, man fühlt mit, man riecht, schmeckt und hört. Wahrnehmungen, die so nur dem Buch vorbehalten sind. Trotzdem ist es, als ob man in seinem Buch durch eine Ausstellung grossformatiger, gemalter Bilder geht, Bilder, die Geschichten erzählen. Aber da sind auch Texte eingeflochten, die der Erzähler im Schulhaus schreibt, ziemlich düstere Zukunftsvisionen, Miniaturdystopien, als wolle das Unterbewusstsein des Autors der für ihn überwältigenden Schönheit Donegals entgegenwirken.
Ich danke der Organisation der Weinfelder Buchtage für die Begegnung mit Hansjörg Schertenleib. Vor allem auch deshalb, weil er während dieser Veranstaltung verkündete, es würde seine letzte Lesung sein.