Navid Kermani, deutsch-iranischer Schriftsteller, Publizist und Orientalist, Träger vieler Preise, mit allem Recht den des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2015, ist eine Stimme, die sich einmischt. Ob als Berichterstatter aus Krisengebieten, als Begleiter von Flüchtlingen, als Redner oder gar als Kandidat eines hohen politischen Amtes schreibt und spricht er uns ins Gewissen. Umso erstaunlicher sein neuer Roman «Sozusagen Paris».
Ein Autor, eigentlich Navid Kermani, liest in irgendeiner deutschen Stadt aus seinem Buch. Nachdem man ihm freundlich applaudiert hatte und er sich fragt, was aus einem angefangenen Abend in der Provinz werden würde, stehen jene an, die ihr Buch gerne signieren lassen wollen. «Aber nicht für Jutta» schreckt ihn eine Stimme aus seiner Benommenheit. Die Frau, die neben ihm steht, war im Buch das Mädchen Jutta, das Mädchen einer Liebesgeschichte zweier Fünfzehnjähriger, aus der er eben vorgelesen hatte. Nach dreissig Jahren aus der Vergangenheit aufgetaucht, auch wenn sie im wirklichen Leben nicht Jutta heisst. Mehr aus Verlegenheit und Ertapptheit tröstet der Autor die Frau auf später, in ein paar Minuten, obwohl er weiss, dass Veranstalter und hiesige Kulturbeflissene auch noch ein Stück seiner Aufmerksamkeit beanspruchen werden. Später trifft er sie auf der Strasse vor dem Lokal, seine Romanliebe, dreissig Jahre älter. Irgendwann stehen die beiden in ihrem Wohnzimmer, sie mittlerweile Bürgermeisterin, verheiratet mit einem Arzt, Mutter halbwüchsiger Kinder. Man steht vor dem langen Regal mit Büchern, trinkt Wein, öffnet nach Mitternacht noch eine zweite Flasche, während der Ehemann unsichtbar ein Stockwerk höher an Arztrechnungen schreibt. Man trinkt und redet; vom Altern, von der Zeit, davon, dass wir den Dingen wie den Menschen mit inneren Augen begegnen, innerer Wahrnehmung, die sich nicht ans Objektive hält. Von der Liebe und davon, dass der Hass dazugehört, dass im Geliebten alles Heil und alles Übel liegt. Er von seiner Trennung, sie von ihrem Mann, der nach zwanzig Jahren Ehe unweigerlich nicht mehr der ist, den sie einst heiratete. Von den Vorstellungen dessen, was die Zeit bringen wird, im Kleinen auch in dieser Nacht, die sich der Autor in immer anderen Farben ausmalt. Während die Situation im Wohnzimer durch Wein und Rauch immer entrückter wird, die Gespräche immer offensichtlicher am Intimen vorbeischrammen, sitzt der Ehemann nebenan und schreibt Rechnungen.
Navid Kermanis Roman ist nicht die Wiedergabe einer Geschichte, ein nacherzählter Abend, auch nicht die Summe von Erinnerungen. So wie die beiden im Wohnzimmer vor dem Bücherregal stehen, scheint Navid Kermani vor einem imaginären Regal zu stehen. Aber im Vergelich zu den meist hübsch aussehenden Bücherwänden, sprechen die Autoren, mischen sie sich ins Denken des Autors ein, die grossen französischen Namen wie Proust, Flaubert, Balsac oder Standal. Unglaublich, mit welcher Vehemenz sich die Stimmen einmischen. Als wäre es im Kopf des Autors während des Gesprächs dauernd laut, als müsste er sich in einem fort darauf konzentrieren, das Wichtigste herauszufiltern.
«Sozusagen Paris» ist ein ungeheuer gescheites Buch, eine Mischung aus Essay und Roman, viel mehr als gute Unterhaltung. Ein Buch, das es lohnt, in kleinen Häppchen gelesen zu werden. Ein Buch, das anspornt, etwas zu sagen hat. Ein Buch mit Witz, das mit Erzählebenen spielt und in pures Lesevergnügen mündet, wenn Kermani zum wiederholten Mal mit seinem fetten Lektor hadert, dem er während des Abends im Geiste schon mit seinem neuen Roman gegenübersteht, diesem Fleischberg, der allerdings viel mehr als bloss Fettflecken im Manuskript zurücklässt.
Klar, wer die französischen Klassiker kennt, dem mehrt sich das Vergnügen!
Navid Kermani, geboren 1967 in Siegen, lebt in Köln. Für sein literarisches und essayistisches Werk erhielt er unter anderem den Kleist-Preis, den Joseph-Breitbach-Preis und 2015 den Friedenspreis des deutschen Buchhandels. Zuletzt erschienen bei Hanser «Dein Name» (Roman, 2011), «Über den Zufall» (Edition Akzente, 2012), «Große Liebe» (Roman, 2014), «Album» (Das Buch der von Neil Young Getöteten / Vierzig Leben / Du sollst / Kurzmitteilung, 2014) und «Ayda, Bär und Hase» (2017) ist sein erstes Buch für Kinder
Am 24. Januar liest Navid Kermani im Kaufleuten in Zürich. Moderiert wird der Abend von Martin Ebel, Tages-Anzeiger