„Was, wenn ich ehrlich wäre?“ schreibt Mireille Zindel ganz zu Beginn ihrer literarischen Auseinandersetzung mit dem Tod ihrer kleinen Tochter Zoé. 12 Tage lebte das kleine Mädchen, ohne das Spital jemals zu verlassen. Und sechs Jahre dauerte es, bis die Schriftstellerin den einen Roman zur Seite legte, um auf ihre ganz eigene Art und Weise mit dem Abschied fortzufahren.
Adventszeit; man feiert in der Erwartung des Kindes. Kein Ereignis im Leben eines Menschen ist derart einschneidend wie die Geburt eines Kindes. Nichts generiert ein derart tiefes Glücksgefühl wie das erste In-die-Hand-Nehmen eines Kindes. Es ist nicht nur im christlichen Glauben die personifizierte Hoffnung, die menschgewordene Glückseligkeit. Auf der anderen Seite der Tod, das unwiderbringliche Abschiednehmen, die Trennung, das Auseinanderreissen. Die Angst, was dann passiert und danach sein wird. Die Angst vor der Leere, vor dem Verlorensein. Und was ist, wenn Geburt und Tod nur 12 Tage voneinander entfernt liegen? Wenn mit dem Moment des grösstmöglichen Glücks die Angst beginnt, das Bangen, das verzweifelte Greifen nach jedem Halm Hoffnung? Wenn der Tod unmittelbar bevorsteht, unabwendbar, wie ein Urteil, ein übergrosses Schwert, das trennen wird, was zusammengehört, was eine Schwangerschaft lang nicht nur im Bauch wuchs, sondern im Herzen, den Plan für ein gemeinsames Leben, eine Familie ausmachte?
Ich mag Bücher nicht, die mich zum Zeugen und Mitwisser einer Bewältigung, eines Heilungsprozesses machen. Bücher, die mir beweisen wollen, dass ich bloss stark genug sein muss, um mich meinem Trauma zu stellen. Die von mir ein Schulterklopfen provozieren wollen, die Anerkennung, es bravourös gemeistert zu haben. Mireille Zindel nimmt mich ganz behutsam mit auf einen Weg durch diese 12 Tage und weit darüber hinaus. Nicht Mitleid, sondern Selbstreflexion will sie provozieren. Sie zeigt, wie sehr wir uns auf Schienen bewegen, wie leicht es uns aus den Schienen wirft und Leben kippen kann, entgleisen, still stehen. Wie leicht wir uns von der Erwartung des Glücks verführen lassen, alles mit unsäglicher Selbstverständlichkeit erwarten und es mit grösstmöglicher Lockerheit ausblenden, dass neben all dem Glück bodenloses Unglück geschieht.
Spinale Muskelatrophie, SMA, war die Diagnose, die die Eltern zehn Tage nach der Geburt bekamen, zwei Tage vor dem Tod der kleinen Tochter. Ein Gendefekt. Damit war nur erklärt, was seit dem Moment der Geburt eine permanente Hektik und Dramatik auslöste, weil beim Kind schon mit dem ersten Augenblick lebensrettende Sofortmassnahmen ergriffen werden mussten. Weil ganz schnell klar wurde, dass dem Kind nicht jene Zukunft geschenkt werden würde, von der man neun Monate lang hoffte, mit der man Strampelhosen und Kinderbettchen kaufte, das Familienglück werden sollte. Ein Kind, das man der Mutter schon nach der Geburt wegnehmen musste, um es zu beatmen. Die Geburt war keine Fanfare des Glücks, sondern der Beginn langen Leidens, der Verzweiflung darüber, ob man es je schaffen würde. Das Gefühl umfassender Sinnlosigkeit drohte zu einem Lebensgefühl zu werden.
Mireille Zindel erzählt von ihrer grenzenlosen Liebe zu ihrem Kind, das sie nur kurz begleiten konnte, das in jener Zeit trotz allem ihr Glück ausmachte. Ein Glück, dass Mireille Zindel um jeden Preis zu konservieren versucht. „Bald wärmer“ erzählt vom Kampf. Aber auch von den Irrungen, dem Hadern und der Verzweiflung. Alles existiert gleichzeitig, schreibt Mireille Zindel. Spitäler sind Orte eben jener Gleichzeitigkeit.
Eigentlich müssten Männer dieses Buch lesen, denn es beweist, wie viel uns entgeht, wie gross die Welt einer Mutter ist. „Bald wärmer“ rüttelt mich wach, zeigt mir Tiefen, von denen ich nichts weiss. Und nicht zuletzt ist „Bald wärmer“ ein Buch der Hoffnung.
Mireille Zindel, Germanistin und Romanistin, Jahrgang 1973, ist eine Schweizer Schriftstellerin und lebt in Zürich. Für ihren ersten Roman «Irrgast» erhielt sie 2008 den Preis der Literaturperle (art-tv.ch) und den Literaturpreis der Marianne und Curt Dienemann Stiftung. Nach «Laura Theiler», «Kreuzfahrt», und «Die Zone» erschien 2024 ihr neuster Roman «Fest». Mireille Zindel schreibt auch Gedichte, Shortstories, Artikel und Reportagen und veröffentlicht Videos (Rest in poetry, Friedhofforum Stadt Zürich, 2024).
Beitragsbild © Ayse Yavas