Lucas Cejpek «Du siehst Gespenster und nichts in der Minibar», Sonderzahl

Lucas Cejpek ist ein formidabler Beobachter und Nachdenker. Ein Mann, der sich mit Oberflächlichkeiten nicht begnügt und dem der Blick über die eigene Nasenspitze hinaus längst zur Lebensaufgabe geworden ist. Sein neuestes Buch, eine Mischung aus Essaysammlung, Tagebuch, Betrachtungen und Nachforschungen ist ein schillerndes, hochliterarisches Kalaidoskop. Die ideale Lektüre, um dem nächtlichen Schlaf die richtige Färbung zu geben!

Schreiben sie Tagebuch? Ich schreibe seit mehr als 40 Jahren, möchte aber niemandem die Lektüre dieser Bücher zumuten, weil es sehr subjektive Wahrnehmungen eines Menschen sind, der sich allzuoft in den mehr als menschlichen Verstrickungen seines eigenen Dasein verheddert. „Du siehst Gespenster und nichts in der Minibar“ erscheint wie ein Tagebuch. Aber Lucas Cejpeks Blick auf die Welt ist weder der eines Hypochonders noch jener eines auf sich selbst Zurückgeworfenen, obwohl Lucas Cejpek mit dem Schreiben dieser äusserst vielfältigen, vielstimmigen und vielseitigen Texte während der Zeit der Pandemie begonnen hatte, einer Zeit, in der viele wirklich Gespenster sahen und der „Blick in die Minbar“ wirklich eine grosse Leere auslöste.

Lucas Cejpek «Die siehst Gespenster und nichts in der Minibar», Sonderzahl, 2024, 240 Seiten, CHF ca. 36.90, ISBN 978-3-85449-660-1

Lucas Cejpek sieht und denkt nach, lässt sich von Kleinigkeiten ins Grosse tragen, leuchtet hinter Geheimnisse, öffnet Türen und weiss immer und immer wieder zu überraschen. Dabei ist das Thema „Gespenster“ immer wieder anzutreffen. Als man während der Pandemie im Hotelzimmer stranden konnte, die Welt sich auf einen Mikrokosmos reduzierte, ein Hotelzimmer zu einem „utopischen Ort“ wurde, begann Lucas Cejpek aufzuschreiben, aufzutun. „Du siehst Gespenster und nichts in der Minibar“ sind Gedankenspaziergänge in die Tiefen menschlicher Existenz.

Zwei solcher „Einträge“ stellte mir Lucas Cejpek für diesen Beitrag zur Verfügung:

Im Buch Seite 64, 65, 66: «Als ich am Morgen des 3. November 2020 durch die Liniengasse ging, die ich in meinem letzten Buch beschrieben habe – es war der erste Tag des zweiten Lockdows, den die Regierung zur Rettung des Gesundheitswesens verhängt hatte, und ich war auf dem Weg zum Krankenhaus der Barmherzigen Schwestern, wo ich noch am selben Tag einer Leistenoperation unterzogen werden sollte, nachdem ich fast ein Jahr lang eine Operation aufgeschoben hatte, auch wegen des ersten Lockdowns Mitte März, als nur noch lebensrettende Operationen durchgeführt werden durften – ich ging durch die Liniengasse, den Kurier unter dem Arm, die Titelseite war schwarz, die Schlagzeile in weißen Lettern: Terror im Herzen von Wien – am Vorabend hatten, wie in den Dauersendungen im Fernsehen berichtet wurde, mehrere Attentäter im Ausgehviertel rund um den Schwedenplatz wahllos auf Passanten geschossen – wie sich später herausgestellt hat, war es ein Einzeltäter, ein 20jähriger IS-Anhänger aus Wien, der neun Minuten, nachdem er begonnen hatte, um sich zu schießen, von der Polizei erschossen wurde – in neun Minuten hatte er vier Menschen getötet und 22 weitere zum Teil schwer verletzt – als ich am Tag danach durch die Liniengasse zum Krankenhaus in der Stumpergasse ging, fiel mir zum ersten Mal ein Schaufenster an der Ecke Hirschengasse auf, wo früher die Installationsfirma Karl Jäger war – die Aufschrift an der Fassade war immer noch da, ein Feld des 16teiligen Fensters war mit einem handgemalten Plakat beklebt: ZEIT/FEN/STER und am Boden standen Kakteen in bunten Töpfen, während der Blumentrog vor dem Fenster mit Unkraut überwuchert war.

Der letzte Eindruck, bevor ich nach der Einnahme einer Schlaftablette das Bewusstsein verlor, war grün, die Farbe des Paravents neben meinem Bett, in dem ich von einem Pfleger aus meinem Zimmer im dritten Stock in die Anästhesie gefahren wurde, mit dem Lift in den ersten Stock, die Dokumentenablage auf der Theke vor mir, hinter der das medizinische Personal in Grün verschwand, war grün, ebenso wie die Abfalltonne am Rand des Gangs zum Operationssaal. – Als ich wieder im Krankenzimmer aufgewacht bin, das ich mit einem Tischler teilte, dem die Gallenblase entfernt worden war und der in tiefem Schlaf lag, begann ich das Buch, das ich mitgenommen hatte, zu lesen, Marie-Claire Blais› Roman Drei Nächte, drei Tage, um auf die erste Mahlzeit seit Mitternacht zu warten – vor einer Vollnarkose muss man nüchtern sein. Die barocke Fülle von Blais› Buch hat mich in die Wirklichkeit zurückgeholt, die über Seiten gehenden Sätze – ich habe mir die wenigen Punkte und Fragezeichen angezeichnet, mit denen sich Blais unterbricht, um ihre Figuren zusammenzuführen, und alle Stellen, an denen von Grün die Rede ist, was selten geschieht, obwohl sich alles auf den Antillen abspielt, die ich mir lichtgrün vorstelle und nicht dunkelgrün wie das Pfarrhaus und das Militärgebäude am Beginn des Romans, auf die der grüne Tisch des Spielcasinos folgt, die grüne, neonfarbene Spur von Inlineskates, die graugrünen Sümpfe am Meer, der grün angestrahlte Swimmingpool und die Zeiger auf dem grünen Wecker, der auf neun Uhr steht, die Stunde, in der sie geboren wurde, die Stunde, in der sie sterben würde, Renata, die Wiedergeborene.»

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Diese Texte sind sehr wohl aus einer Not entstanden, aus der totalen Reduktion, in einer Zeit, in der sich alles zu schliessen begann. Du machst in deinen Texten genau das Gegenteil; du öffnest, nicht nur dich selbst, sondern die reduzierte Welt um dich herum. Du steigst in überraschende Tiefen, offenbarst Geschichte und Geschichten, durchbrichst gar formal den Text, die Gestalt. Da ich annehme, dass das Schreiben für dich über die Jahrzehnte zu einem ständigen Begleiter wurde, frage ich mich, wann eine Sammlung von Texten zu einer Buchidee wird. Zuerst die Idee oder zuerst eine gewisse Anzahl Texte, die sich als zugehörig erweisen? Liest man die Titel deine Bücher, dann scheint es immer und immer wieder ein „Umkreisen“ zu sein.
Buchideen entwickeln sich bei mir unterschiedlich, je nachdem wo ich gerade in meiner Arbeit als freier Schriftsteller und Regisseur bin, welche Obsessionen deutlich werden in einem wiederholten Umkreisen, wie Du es nennst.
 
Es gab schon während der Pandemie „Coronabücher“, die aber kaum jemand lesen wollte. „Du siehst Gespenster und nichts in der Minibar“ ist ein Coronabuch und doch kein Coronabuch. Aber mit Sicherheit entstanden viele dieser Texte aus diesem „Zurückgeworfensein“. Hat jene Zeit aus Lucas Cejpek einen anderen gemacht? Was ist geblieben? Zumindest aus meiner Sicht gab es auch das eine oder andere, das sich mit der Pandemie zu verändern schien. Allerdings hat sich die Ernüchterung längst darübergelegt.
Die Coronazeit hat mir gezeigt, dass mein aufgeklärtes Selbstverständnis fragwürdig ist, auch unter demokratischen Bedingungen wie in Österreich. Ich wurde ausgesperrt, als unverheirateter Mann, als Kaffeehausbesucher und Spaziergänger in staatlich verwalteten Parks, die in Wien die weitläufigsten sind.
 

Im Buch Seite 135: «Als ich nach dem Jahreswechsel die Leerflaschen in den Altglaskontainer am Naschmarkt warf, sah ich neben dem Verkaufsstand für Mäntel, Jacken, Schals, Schirmmützen, Pudelhauben, Strickwesten, Gürtel, Hosenträger, Rucksäcke, Brieftaschen einen afrikanischen Maskenstand, den ich zum ersten Mal auf dem Vorweihnachtsmarkt gesehen hatte, aber der Händler, mit dem ich damals gesprochen hatte, war nicht da, und auch nicht die Maske, die mir sofort aufgefallen war, ein threeface – wir redeten Englisch miteinander – eine unbemalte Drei-Gesichter-Maske: drei Augenbrauen, drei Augen, zwei Nasen, ein Mund.

Wo kann man hier noch solche Masken sehen?, hatte er mich gefragt. – Im Weltmuseum›. – Ich habe ihm die Adresse auf einen Zettel geschrieben: Heldenplatz, 1010 Wien.

Als ich ein drittes Mal über den fast leeren Marktplatz ging, war der Maskenhändler gerade dabei, seine Verkaufsstücke in Koffer und Taschen zu packen: bunte Masken und Holzfiguren, große Fische und mit Schnitzereien verzierte Türblätter. – Wo ist der threeface?, fragte ich ihn, und er holte die Maske aus einer Plastiktasche. – Wollen Sie sie?Das kann ich mir nicht leisten, sagte ich, Sie wollen 250 Euro dafür.220 für Sie.Das nächste Mal vielleicht, sagte ich. – Ich fliege morgen nach Paris. – Mit dem ganzen Gepäck? – Ich komme in drei Monaten wieder, sagte er, inschallah. – Dann sehen wir uns im März. – Wie viel haben Sie jetzt dabei?, fragte er, und ich zeigte ihm meine Brieftasche: 60 Euro. – Dann heben Sie noch 100 ab, sagte er und zeigte auf den Geldautomaten gegenüber. (Montag, 3. Jänner 2022)

Ich habe die Drei-Gesichter-Maske im Vorzimmer aufgehängt, über der Küchentür, damit ich sie möglichst oft sehe. Sie ist aus Gabun am Golf von Guinea, wo der Äquator den Nullmeridian kreuzt.»

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Du widmest dich in den Texten immer und immer wieder den Gespenstern, tust es lustbetont, manchmal mit Akribie, nicht verwunderlich in einer Zeit, in der uns allerlei Welterklärer die bösen Geister erklären. Edgar Allan Poe glaubte allen Ernstes an Gespenster. Die Fotografie beschäftigte sich immer wieder mit Gespenster – und nicht zuletzt die Literatur ist voller Gespenstergeschichten. Hat nicht die Literatur selbst etwas gespenstisches? Ist sie doch Abbild einer nicht existierenden Zwischenwelt.
Literatur hat insofern etwas Gespenstisches – um Deine vorletzte Frage zu beantworten –, als sie nie abbildend ist, sondern immer Erinnerung und Entwurf. Insofern gibt es eine Zwischenwelt, während die Malerei für mich etwas Gegenwärtiges hat, der Film ist reine Projektion.

Bei dir zuhause hängt eine Drei-Gesichter-Maske. Bei uns zuhause hängst auch eine afrikanische Maske, die ich mir vor ein paar Jahren auf einem Markt in Paris kaufte. Auch eine Art Geist. Ich habe dir das Foto „angehängt“. Nicht eigenartig? Eine Geistermaske, um uns diese vom Leib zu halten – oder sie gar einzuladen? Meine nächtlichen Geister mag ich nicht so sehr. Du aber scheinst sie zu mögen?
In meinen Träumen geht es meistens darum, dass ich den Anschluss an etwas verpasse – beim Umsteigen in Zügen – oder etwas liegenlasse. Vielleicht ist meine Genauigkeit im Schreiben eine Vorsichtsmaßnahme?

Lucas Cejpek, geboren 1956 in Wien, Studium der Germanistik und Anglistik in Graz. 1982 Promotion zum Dr. phil. Lehraufträge an den Universitäten Graz, Klagenfurt und Wien. Seit 1981 als Theaterregisseur tätig. 1983-90 freier Mitarbeiter des ORF Steiermark, seit 1990 freiberuflicher Schriftsteller. Lebt in Wien. Preise, Auszeichnungen: 1984 Literaturförderungspreis des Forum Stadtpark Graz und 1992 Förderungspreis der Stadt Wien für Literatur, veröffentlicht Essays, Romane und Gesprächsbücher.

Beitragsbild © Armin Bardel